Hochaktuelles, wichtiges Thema - Umsetzung mit einigen Schwächen

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downey_jr Avatar

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"Durch die Scheiben des Busses blickt Franka auf das immer vertrauter werdende Idyll und empfindet keine Wehmut, nur Erleichterung, dass sich ihr Leben mittlerweile so weit davon entfernt abspielt.“

Im Roman „Unter Grund“ von Annegret Liepold muss die junge Franka sich ihrer dunklen Vergangenheit stellen. Als sie als Referendarin gemeinsam mit ihren Schülern sowie ihrer WG-Mitbewohnerin und Freundin Hannah, die als Journalistin über den NSU-Prozess in München berichtet, einen Gerichtsprozess besucht, bricht das alte Wunden auf. Anstatt ihrer Freundin endlich von damals zu erzählen, flüchtet sie lieber ins heimatliche Dorf in der Nähe von Erlangen.

"Aber Schweigen hat ein Verfallsdatum. Als Franka im fensterlosen Gerichtssaal saß und auf Zschäpe hinunter blickte, war ihr das mit einem Schlag klar geworden. Kaum ist das Datum überschritten, beginnen die Worte in einem zu gären, wandeln sich nach und nach zu etwas unberechenbaren. Hätte Sie Hannah vor fünf Jahren von Janna und Patrick erzählt, gleich nachdem sie zu ihr in die WG gezogen war, hätte Hannah sie vielleicht einfach in den Arm genommen und gesagt: 'Aber heute bist du eine andere.'
Doch sie hat das Verfallsdatum zu lange ignoriert, die Worte sind giftig geworden. Wenn sie jetzt den Mund öffnet, wird Hannah ihr vorwerfen, dass sie so lange geschwiegen hat, und ihre Freundschaft ist womöglich vorbei. Wenn sie weiterhin nicht sagt, auch."

"Sie muss verstehen, was damals passiert ist, und zurückfahren, an den Ort, der sie ausgespuckt hat wie einen lästigen Kaugummi. Sie weiß nicht, was schlimmer ist: Dass nichts mehr so sein könnte, wie sie es in Erinnerung hat, oder dass alles noch genauso bedrückend ist wie damals."

"Franka weiß, sobald sie aussteigt, will sie sofort wieder weg, schon jetzt hat sie das Gefühl, nur ein paar Minuten und nicht fünf Jahre weg gewesen zu sein."

Frankas Großmutter ist längst gestorben, doch ihre Mutter lebt noch immer im Dorf; ebenso ihre Tante June, aber ihr geht sie lange aus dem Weg. Stattdessen versucht sie endlich zu verstehen, was damals passiert war.
In ihrer Familie herrschte schon immer Schweigen. Besonders ihre Großmutter, die „Fuchsin“ genannt wurde, hatte viele Geheimnisse - und strikte Regeln. Als Franka elf Jahre alt war, starb ihr Vater, mit dem sie viel verband und gemeinsam in der Natur der Umgebung unterwegs war. Mit ihm teilte sie die Heimatverbundenheit. Nach seinem Tod fühlte sie sich immer verlorener und ihre schulischen Leistungen wurden schlechter.

"Sie rückte vor, Jahr um Jahr, immer knapp, aber es ging weiter, und mit jedem Jahr wurde sie entschlossener, sich nicht anmerken zu lassen, wie wir es tat, der Vorzeigefehler zu sein."

"'Wenn es keine Rolle mehr spielt, welche Wurzeln wir haben und welche Traditionen wir pflegen, dann ...' Die Worte stolperten aus ihr heraus, Tränen stiegen ihr in die Augen. Wenn sie noch mehr preisgab, würde Leon merken, wie verletzlich sie war.
'Dann was? Tradition heißt doch nur, dass man vergessen hat, wo der Anfang ist. Nur weil man was schon immer so gemacht hat, hat es doch keinen Wert an sich!'"

Sie entscheidet sich gegen eine Beziehung mit Leon, vor allem aus Unsicherheit, und findet stattdessen in Patrick und Janna Gleichgesinnte. Zum ersten Mal lernt sie Zugehörigkeit zu einer Gruppe kennen, und sie steigt, ohne sich wirklich bewusst dafür zu entscheiden, in die rechte Szene ein.

Hier ließ meine Begeisterung für das Buch dann (trotz des an sich sehr guten Schreibstils!) leider etwas nach. Franka als Person und vor allem ihre Enscheidungen bleiben für mich zu wenig klar und nachvollziehbar; sie kommt sehr rückgratlos und nicht greifbar bei mir an. Sie wird imner als Mitläuferin dargestellt, aber mir fehlte hier etwas.
Was möchte die Autorin damit aussagen, soll es eine Warnung sein? Ich hätte mir hier etwas mehr Deutlichkeit gewünscht, was Frankas Radikalisierung angeht; auch die rechte Szene des Dorfes hätte man eventuell klarer darstellen können.

Als Franka sich endlich mit ihrer Tante June ausspricht und es auch um die Vergangenheit ihrer Großmutter und den „Fuchsbau“ geht, war das etwas intensiver. Jedoch fand ich das Ende nicht wirklich gelungen, das Hin- und Herspringen zwischen NSU-Prozess im Heute und Frankas Vergangenheit mit dem Jugendprozess ist nicht immer leicht nachvollziehbar, ebenso wie die zeitlichen Sprünge in den Abschnitten im gesamten Buch. Das hätte man sicher besser lösen.

Hilfreich ist der Anhang mit Glossar und Verweisen zu den im Text verwendeten Begrifflichkeiten des rechten Gedankenguts.

Insgesamt ein Buch mit einem sehr wichtigen und (leider) hochaktuellen Thema, dessen Umsetzung leider nicht komplett überzeugen konnte.