Absolut lesenswert!

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susanne probst Avatar

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Amity Gaige beherrscht die Kunst des Erzählens. Sie fesselt den Leser mit ihrer Geschichte von einer jungen amerikanischen Familie, die den Traum des Familienvaters verwirklicht, ein Abenteuer wagt und einer Tragödie entgegensegelt.

Das um die 40-jährige Ehepaar Julie und Michael Partlow und ihre beiden Kinder, die 7-jährige Sybil und der 2 1/2 jährige George, leben in einer Vorstadt in Connecticut.
Julie, die seit der Geburt ihrer Kinder immer wieder von depressiven Phasen und Versagensgefühlen geplagt wird, ist Literaturwissenschaftlerin und hat sich auf Lyrik spezialisiert.
Sie schreibt an ihrer Dissertation über die Lyrikerin Anne Sexton, die auch unter Depressionen litt.
Michael ist im Versicherungswesen tätig und unzufrieden mit seinem Job.
Die beiden sind sich, was ihre politische Gesinnung und ihre Persönlichkeit betrifft, nicht besonders ähnlich.
Michael, offensichtlich ein Trumpwähler, hat etwas selbstgerechtes, spontanes und fatalistisches, während Julie, eine prototypische intellektuelle Linke, eher die Besonnene ist.

Michael, der das Gefühl hat, in einer gesellschaftlichen Zwangsjacke zu stecken, hat einen großen Traum und schafft es, seine Familie dafür zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht.

Julie ist zwar skeptisch, willigt aber schon deshalb ein, weil sie hofft, durch diese Auszeit ihre Ehe, in der es schon länger heftig krieselt, zu retten.
Kann das gelingen?
Eine Reise statt Paartherapie um Trennung zu vermeiden...
Mit der konkreten Schiffsreise treten Julie und Michael eine innere Reise an.

Während dieses Jahres entdecken die vier die fantastische Insellandschaft der Südsee und die Kinder freuen sich über die gemeinsame Zeit v. a. mit ihrem Vater.
Erinnerungen ploppen auf und die Eheleute setzen sich mit Träumen und Versäumnissen auseinander.
Statt sich näher zu kommen, schreitet ihre innere Distanzierung voran.

Die Reise birgt auch rein äußerlich Gefahren: die Nahrungsmittel werden knapp, die Technik hat ihre Tücken und ein gewaltiger Sturm zieht auf...

Nach ihrer Rückkehr liest Julie das Tagebuch ihres Mannes, das er während des Jahres auf hoher See und teilweise auch schon davor geführt hat.
Sie möchte dadurch Verständnis gewinnen. Für ihren Mann und für seine Beweggründe.

Wir lesen in „Unter uns das Meer“ von einer Schiffsreise, die mit ihrem Entdeckungscharakter, ihren Unwägbarkeiten, genussvollen, abenteuerlichen und schwierigen Momenten die naturgegebene Veränderung von zwischenmenschlichen Beziehungen symbolisiert.
Das Wetter und die Gezeiten sind wie die Tatsache, dass Beziehungen einer Dynamik unterliegen, vorgegeben, unbeeinflussbar und unberechenbar.
Vergleichbar dem Auf und Ab der Wellen, gibt es auch Höhe- und Tiefpunkte in Beziehungen.
Und manchmal ist der Wellengang zu heftig.
Vor allem dann, wenn die Partner so wie Julie und Michael sehr unterschiedlich sind, eigentlich nicht zusammenpassen und sich trotzdem ergänzen.

Die Geschichte wird retrospektiv in der Ich-Perspektive von Julie erzählt.
Unterbrochen und aufgelockert wird diese Erzählweise von den sehr persönlichen Tage- bzw. Logbucheintragungen ihres Mannes Michael und den kurzen Abschnitten, die aus der Sicht von Julies Tochter geschrieben sind.

Die Erzählweisen von Michael und Julie spiegeln dabei eindrücklich deren Persönlichkeiten wieder.
Auf der einen Seite die eher gedrückte und melancholische Julie, auf der anderen Seite der deutlich lebendigere und anpackendere Ton von Michael.

Überhaupt sind die gegensätzlichen Charaktere der Eheleute wunderbar gezeichnet. Die Vielschichtigkeit und Komplexität ihres Innenlebens wird deutlich und wir erleben Menschen mit Ecken und Kanten und Stärken und Schwächen.

Die Einschübe aus dem Tagebuch tragen zur Abwechslung bei und zahlreiche Fachbegriffe aus der Segelsprache machen den Roman sehr authentisch, auch wenn sie den Lesefluss etwas stören, weil ein Laie wie ich immer wieder recherchieren „muss“.

Aufrichtig und ungeschönt, wortgewandt und bildgewaltig, sowie packend, mitreißend und feinfühlig konfrontiert die Autorin den Leser mit der Schwierigkeit, im Gewirr der unzähligen Möglichkeiten des modernen, komplexen und durchdigitalisierten Lebens seinen individuellen Weg zu finden.
Die Autorin vermittelt die Bedrohlichkeit, die über der Reise und der Ehe liegt sehr eindrücklich.

Amity Gaige hat mit „Unter uns das Meer“ ein Buch geschrieben, das gleichermaßen Familiengeschichte, Reise- und Abenteuerroman sowie Psychogramm einer Ehe und Ehedrama ist, das sich durchgehend flüssig und phasenweise so spannend wie ein Thriller liest und das zum Nachdenken anregt und nachhallt.

Ich empfehle diesen außergewöhnlichen und tiefgreifenden Roman sehr gerne weiter.
Er ist keine leichte Kost, da er von einer konfliktreichen Ehe, einer dysfunktionalen Familie, traumatischen Erlebnissen und psychischen Erkrankungen handelt. Aber: That’s life.
Manchmal ist es nicht einfach und manchmal löst sich auch nicht alles in Wohlgefallen auf.