Hinaus aufs Meer

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Wie kann man seine Beziehung kitten? Wie damit umgehen, wenn Leidenschaft und Anziehung schon lange verschwunden sind, da aber zwei kleine Kinder sind, die einen binden? Für diese Fragen finden Michael und seine Frau Juliet eine unorthodoxe Lösungsmöglichkeit. Zusammen mit ihren beiden Kindern gehen sie auf eine Bootstour. Sämtliches Ersparte wird in den Erwerb einer Yacht gesteckt, die Tochter verpasst ein Schuljahr – aber womöglich kann es ihre Beziehung retten?

Von diesem Reparaturversuch einer Ehe erzählt die Amerikanerin Amity Gaige. Ihr Roman heißt Unter uns das Meer und wurde von André Mumot ins Deutsche übertragen (im Original: Sea Wife). Eine wilde Tour übers Meer und durch eine Beziehung.

Die Welt der Seefahrt, sie ist voller Aberglauben. Unter anderem bringt es Unglück, wenn man ein Schiff neu benennt. Doch genau diesen Frevel begeht Michael. Er benennt die 14 Meter lange Yacht, für die er sein gesamtes Vermögen zusammengekratzt hat, nach seiner Frau Juliet. Doch schon Shakespeare, dessen Heldin den Namen mit Michaels Frau teilt, wusste im gleichnamigen Drama: These violent delights have violent ends (So wilde Freude nimmt ein wildes Ende, Romeo & Julia, 2. Aufzug, 5. Szene). Ob das auch für das Schicksal der beiden gilt?

Um ihre Geschichte zu erzählen, wählt Amity Gaige einen besonderen erzählerischen Kniff. Sie lässt Juliet und Michael abwechselnd zu Wort kommen. So ist es ein Schiffstagebuch von Bord der Juliet, wobei das eher eine Art Tagebuch denn eine nautische Dokumentation darstellt, in das Michael seine Gedanken notierte. Dem entgegen setzt Gaige (auch in anderer Schrift gesetzt) die Gedanken und Erinnerungen Juliets.
Zwei gegensätzliche Figuren im Widerstreit

Das ist mehr als reizvoll, vor allem, da Juliet und Michael so gegensätzliche Figuren sind. Während sie mit der Idee, ein Jahr auf einem Schiff zu verbringen, überhaupt nichts anfangen kann, leistet er jede Menge Überzeugungsarbeit, um seinen Traum zu verwirklichen. Er, der alle Linke und staatliche Einmischung verteufelt, sie, die eigentlich kurz vor ihrer Dissertation stand, ihre Karriere dann zugunsten der Kinder aufgab.

Wie sich die beiden streiten, gegensätzlicher Meinung sind, sich auch um der Kinder willen immer wieder zusammenraufen, das ist psychologisch wirklich glaubhaft geschildert.

Mein Mann und ich sind sehr verschieden, sagte ich. Wir streiten uns wieder und wieder über dieselben Dinge. Wir streiten, aber wir ändern nie die Meinung des anderen. Wir entfernen uns bloß immer weiter voneinander.
Gaige, Amity: Unter uns das Meer, S. 162

Auch wenn die Juliet über 14 Meter lang ist, täuscht das ja nicht darüber hinweg, dass der Schauplatz mehr als begrenzt ist. Zwei Kojen, ein Geschmeinschaftsraum, eine Kombüse. Das war es. Aber ähnlich wie zuletzt Ben Smith gewinnt auch Amity Gaige ihrem kleinen Schauplatz maximalen Ertrag ab. Die Grabenkämpfe zwischen den Erwachsenen, die Kämpfe mit Natur und Technik und die Schönheit des Meeres – all das fasst die Amerikanerin in tolle Prosa. Ein gesondertes Lob ergeht an dieser Stelle auch an Übersetzer André Mumot, der das nautisch geprägte Vokabular toll ins Deutsche überträgt.
Ein Buch mit Überraschungen

Unter uns das Meer ist ein Roman, der immer wieder überrascht. So enthüllt Amity Gaige geschickt nach und nach die Charaktere und Geschichte ihrer Figuren. Als nach zwei Dritteln eine anfangs nur angedeutete Vermutung zur Wahrheit wird (man betrachte nur das Shakespeare’sche Juliet-Zitat), so verliert der Roman auch dadurch nicht an erzählerischer Kraft. Wie Gaige zwischen ihren beiden Ich-Erzählern hin- und herspringt und doch den Plot vorantreibt, das ist tolle Erzählkunst.

Wenngleich der Effekt der beiden Perspektiven nicht ganz so etragreich ausgereizt wird wie im Falle von Lauren Groffs Licht und Zorn, muss man doch konstatieren: erzählerisch kann dieses Buch in allen Belangen überzeugen. Kantige Figuren, ein vorwärtsdrängender Plot, präzise Sprache. Hier kommt zusammen, was bei guter Literatur immer zusammenfinden sollte. Eine echte Entdeckung, dieser Roman. Hier erleidet man keinesfalls literarischen Schiffbruch.