Die Leseprobe lässt bereits den Autor erkennen, aber: ein schwächerer Beginn!

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laberlili Avatar

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Den Beginn von "Untreue" empfinde ich zwar als etwas schwächer als die Anfänge anderer Coelho-Werke, aber auch hier zeigt sich, wie tief der Autor sich in seine (Haupt)Figuren eingraben kann: Denn der Erzählstil entspricht der offensichtlichen Zermürbtheit der erzählenden Protagonistin Linda, deren völlig geregeltes Leben in gleichmäßigen Bahnen verläuft, die nun aber zu überlegen beginnt, ob das wirklich ihr Leben ist; das Leben, das sie leben möchte; oder ob sie ihr Leben einfach nur gewöhnt ist, es aber nicht mehr "wirklich" lebt. Sieht sie sich in ihrem Umfeld um, sieht sie fast immer Dasselbe: Ist es normal, sich irgendwann in der Masse zu verlieren anstatt seine Individualität zu bewahren? Muss Leidenschaft verblassen?
Sie spricht relativ frühzeitig von Depressionen, wirft anfangs allerdings ein, nicht an solchen zu leiden, was ich aufgrund ihrer Überlegungen aber nie geglaubt habe: Für mich scheint bereits auf den ersten paar Seiten eine deutliche Depression durch und so räumt Linda sich gegenüber auch bald ein, doch zumindest am Rande einer depressiven Erkrankung zu stehen.
Mein bisheriger Eindruck ist der, dass sich Linda in ein gesellschaftliches Korsett gezwängt hat oder auch von ihrem Umfeld hat zwängen lassen und nun erst erkennt, dass sie sich ihr Leben immer ganz anders vorgestellt hat, dass sie nie einfach nur "massenkompatibel" sein wollte - hier erinnert sie mich übrigens ein wenig an eine der Frauen aus Stepford, die in Lindas Fall nun aber erkennt, dass sie quasi zu einer genormten Person geworden ist.

Ich würde gerne wissen, ob Linda im weiteren Verlauf der Handlung zu mehr persönlicher Freiheit gelangt, ob sie es evtl. schafft, die Seiten ihres Durchschnittslebens, die ihr gefallen, mit den unterdrückteren Seiten ihrer ganz eigenen Persönlichkeit zu kombinieren oder ob sie ihr ganzes "glückliches" Leben aufgibt, um mehr und aufregendere Facetten des Lebens kennenzulernen oder ob sie in ihrem üblichen Trott resigniert. Wird sie vielleicht zu einer weiteren Veronika Coelhos oder sitzt sie irgendwann ebenfalls weinend am Ufer des Rio Padra (ja, ich erkenne bereits in der Leseprobe Variationen anderer Erzählungen von Paulo Coelho)?
Da ich derzeit weitgehend in der Schweiz lebe, interessiert es mich zudem, ob die Schweizer Heimat hier von Linda weiterhin nicht etwas zu sehr romantisiert und glorifiziert wird, denn ich fand es doch auffällig, wie sehr sie ihre Heimat hier gelobt hat; ob sie sich gar tiefergehend mit der Schweiz identifiziert, die sie doch auch als sehr verlässlich, ruhig und eben unaufregend darstellt und dem Land somit mehr oder minder dieselbe Charakterisierung wie ihrem Leben verpasst, mit dem sie doch auch hadert?!

Ja, die ersten Seiten von "Untreue" machen mich durchaus (wenn auch nicht brennend) neugierig auf die Handlung; dies ist wohl ein Roman, den ich irgendwann einmal sicherlich lesen würde und werde, der mich aber nun nicht derart beeindruckt und fesselt als dass ich es gar nicht erwarten könnte, ihn in seiner Gänze kennenzulernen.