Liest sich gut, lässt aber Tiefgang vermissen...

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fräuleinsalander Avatar

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Linda, 31 Jahre alt, hat in ihrem Leben schon viel erreicht: sie hat einen tollen Mann, zwei Kinder, keine finanziellen Sorgen und ist erfolgreich in ihrem Job als Journalistin. Trotzdem ist sie mit ihrem Leben unzufrieden: einerseits hat sie Angst, dass sie alles verlieren könnte, was sie sich erarbeitet hat, andererseits ist sie von ihrem Leben gelangweilt und scheint an nichts mehr Freude zu haben. Das ändert sich, als sie ihren Jugendfreund Jacob wieder trifft, der mittlerweile ein einflussreicher Politiker ist und eine Affäre mit ihm beginnt.

Das Buch ist aus der Sicht der Ich-Erzählerin Linda geschrieben; es ist flüssig geschrieben und liest sich daher gut. Die Handlung ist in kurze Kapitel/Episoden eingeteilt und spielt in der französischen Schweiz, hauptsächlich in Genf, wo die Erzählerin mit ihrer Familie lebt. Der Schauplatz des Romans spielt insofern eine wichtige Rolle, als dass Linda sich in ihren Reflektionen oft mit dem Leben in der Schweiz und den typischen Eigenschaften der hier lebenden Menschen beschäftigt. Ihr Fazit ist, dass das Leben in der Schweiz zwar sicher und sehr komfortabel ist, aber auch ein bisschen langweilig.

„Untreue“ enthält viele Referenzen zu Religion und Literatur, zum Beispiel zu Predigten des Apostel Paulus und des Reformators Johannes Calvin und zu den Romanen Frankenstein und Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das große Thema des Romans ist die Liebe, es ist das Thema, das Linda in ihren Überlegungen am meisten beschäftigt. Sie verhält sich oft sehr impulsiv und extrem und macht sich dadurch auch ein Stück weit unglaubwürdig: sie kauft spontan Drogen um sie Jacob’s Frau unterzuschieben, auf die sie plötzlich einen richtigen Hass entwickelt hat; außerdem wird nicht klar, ob sie sich wirklich in Jacob verliebt hat oder ob es ihr nur um Eroberung geht. Am Schluss scheint sie ihrem Mann wieder näher gekommen zu sein und behauptet, nur noch Sympathie für Jacob und seine Frau zu empfinden, was dann wieder etwas unglaubwürdig klingt. Die Beschreibungen von Linda’s Gefühlen, wie etwa das Verlieben in Jacob, ihre Einstellung zu seiner Frau und ihre Depressionen haben mich nicht wirklich berührt; einzig der Zwiespalt zwischen der Liebe zu ihrem Mann und dem Verlangen, Jacob König wiederzusehen wurde meiner Meinung nach nachvollziehbar erzählt. Linda fragt sich, ob sie depressiv ist, aber dieses Thema wird weder von ihr noch von ihrer Umgebung wirklich ernst genommen. Nach einem Besuch bei mehreren Psychologen stellt Linda fest, dass ihr eine Therapie zu lange dauern würde und dass Psychopharmaka ein wesentlicher Teil der Behandlung sind. Der kubanische Schamane, an den sie sich wendet, beschreibt Untreue als Gegenmaßnahme zu Unzufriedenheit und innerer Zersplitterung, kann ihr aber auch nicht weiterhelfen. Einzig der Sex mit Jacob gibt Linda ein Hochgefühl, das sie aus ihrer Unzufriedenheit reißt, auch wenn dieser Zustand nicht lange anhält. Sex ist für Linda der einfachste und beste Weg, um kurzfristig die Depressionen zu überwinden.

Ich habe das Buch gerne gelesen, weil es sehr flüssig geschrieben ist, hätte allerdings erwartet, dass es tiefgründiger ist. Ich habe gehört, dass es bei Paulo Coelho’s Büchern oft um Lebenshilfe geht – einerseits regt das Buch zwar schon zum Nachdenken über Untreue im Allgemeinen an, allerdings gibt es meiner Meinung nach zu wenig „Nahrung“, um zu einer tiefgründigeren Auseinandersetzung mit Themen wie Untreue und Depressionen zu führen. Ich hätte erwartet, dass mehr über Gründe fürs Fremdgehen und mögliche Wege, damit umzugehen reflektiert wird. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, dass die Affäre zwischen Linda und Jacob ihnen letztlich nur dazu dient, ihr privilegiertes Leben wieder „aufzupeppen“. Liebe ist zwar das große Thema des Romans, aber auch Linda’s Reflektionen zu diesem Thema sind mehr abstrakt und setzen sich weniger mit ihrer aktuellen Situation auseinander. Auch finde ich, dass Linda mit 31 eigentlich noch zu jung ist, um im Leben bereits alles erreicht zu haben und sich glaubhaft mit diesem „Soll das schon alles gewesen sein?“-Gefühl auseinanderzusetzen.