Ein emotionales Feuerwerk

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marieon Avatar

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Ardacim Kaya hat gerade die Intensivstation verlassen, was nicht zwingend etwas gutes bedeutet. Jetzt liegt er zusammen mit seiner Immunhepatitis in einem Zimmer und hofft auf ein Wunder.

Meine Leber hat beschlossen, nicht mehr mitzumachen. Das ist keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so. S. 16

Es sei denn irgendeine der Therapien schafft es mein Immunsystem zu überzeugen, dass ich doch ich bin. S. 19

Während Arda in seinem Krankenhausbett liegt hat er Zeit über seinen Vater Metin nachzudenken. Metin, der irgendwann abgehauen ist, zurück in die Türkei und darüber vergessen hat, dass er zwei Kinder hat. Seitdem sein Vater weg ist, hat sich seine Mutter Ümran verändert, so verändert, dass seine Schwester Aylin mit ihr gebrochen hat.

Nun sitzen sie abwechselnd an seinem Bett und erzählen ihm davon, was sie ausmacht. Ümrans Mutter, Ardas und Aylins Anneanne, hat damals in der Türkei ihren Vater geheiratet. Er fuhr für die Firma LKW als das Erdbeben kam und den ganzen Ort zerstörte. Danach gingen die Eltern nach Deutschland, um zu arbeiten, es sollten nur drei Jahre sein. Drei Jahre, die Ümran mit ihren zwei Geschwistern bei Esma Hala bleiben musste, die ihr das Leben zur Hölle machte. Als sie dann mit ihren Geschwistern in den Flieger nach Deutschland gesetzt wurde, war sie zuerst froh. Dann jedoch sah sie ihren totkranken Vater dahinsiechen. Sie heiratete einen Landsmann, der ihr Erspartes verspielte, Metin, Ardas Vater.

Als Aylin kommt erzählt sie ihrem Bruder, wie ihre Mutter immer öfter betrunken nach Hause kam und einmal lachend ins Treppenhaus gepinkelt hat, nachdem sie vor die Wohnungstür gehämmert und ihr niemand geöffnet hatte. Aylin hat dann die Lache im dunklen Flur aufgewischt, damit niemand etwas mitbekam. Ihre Anneanne wollte die Kinder mitnehmen, wegen der Tütensuppen und dem wechselnden Männerbesuch, aber Ümran schreit sie nur an.

Aylin wünscht sich, dass ihre Mutter sie nur einmal sieht. Nicht als die bessere oder schlechtere Version Ümrans, sondern als die Tochter, die sie ist. Und dass Ümran sich bei ihr entschuldigt.

Manchmal hatte Ümran Besuch von ihren Freundinnen als Arda noch ein kleiner Junge war.

Die Frauen pressen ihre fest geschminkten Backen auf mein Auge, drücken ihre nassen Lippen auf jede freie Stelle und ich schmecke Lippenstift und rieche Haarspray, bis die erste- ich kann nicht sagen wer- mich packt und zu sich zieht, und ich, um Luft ringend, inmitten einer Schar parfümierter Brüste verloren gehe. S. 101

Dann kochen sie stundenlang und essen nichts davon. Stattdessen sitzen sie auf dem Balkon rauchen und trinken Rake.

Fazit: Der Anfang hat mich an Dschinns von Fatma Aydemir erinnert. Vor allem die Szene als Arda mit seinem abwesenden Vater spricht, aber dann wurde das Buch erkennbar sein eigenes. Die ganze Geschichte ist unfassbar gut geschrieben. Necati beherrscht sein Handwerk mit Bravour. In mir hat er ein emotionales Feuerwerk ausgelöst. Die Szenen, die er mit Ardas Freunden beschreibt, als Susanna über den Platz wackelt und Dannys Herz rasen lässt waren so lustig. Er hat mich dabei zusehen lassen und ich habe mich fast totgelacht. Dann kamen zwei Szenen, die mich erschüttert und entsetzt haben. Die Idee, die Geschichte einer zwangsläufigen Einwanderung mit den Erfahrungen der Großeltern zu verknüpfen ist großartig und wichtig. Zu sehen, dass Menschen hierherkommen, die Berufe, die sie einmal gelernt haben per Urkunde an die Wand hängen, weil sie keine Anerkennung finden und stattdessen Arbeit verrichten, die wir nicht machen wollen. Menschen, die nicht zu uns kommen, weil sie das Wetter und unsere emotionale Kälte so schätzen, sondern weil sie in ihrem eigenen Land chancenlos sind. Menschen, deren Seelen verletzt sind, weil sie schwer fassbare Erfahrungen gemacht haben. Es ist das Buch, das mich in diesem Jahr am meisten bewegt hat und es ist völlig verständlich, dass diese Geschichte es auf die Shortlist des deutschen Buchpreises geschafft hat. Ich drücke Necati Öziri die Daumen für seine herrliche Arbeit.