Beeindruckende Familiengeschichte aus der Nachkriegszeit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
bücherhexle Avatar

Von

Monika Helfer legt mit „Vati“ ihren zweiten biografischen Roman vor. Während im Zentrum des ersten Romans „Die Bagage“ die Herkunftsfamilie ihrer Mutter steht, nähert sie sich in „Vati“ ihrem Vater an. Sie greift dabei nicht nur auf eigene (Kindheits-)Erinnerungen zurück, sondern ergänzt sie um die Perspektiven der Schwestern, der Stiefmutter oder anderer Verwandter, wodurch sich am Ende ein stimmige Annäherung an das Leben des Vater ergibt, das naturgemäß eng mit dem Leben der Tochter verbunden ist.

Die Autorin erzählt nicht chronologisch. Die Haupthandlung wird immer wieder von kleinen Erinnerungssplittern, Episoden, Gesprächen und Reflexionen unterbrochen. Trotzdem verliert Helfer nie den roten Faden, sondern kehrt zu ihrer Kerngeschichte zurück. Wunderbar, dass sie den Anschluss an die Figuren aus der Bagage findet, so dass der Leser beider Romane schnell die Verwandtschaftsverhältnisse wieder im Blick hat. „Vati“ ist aber auch ohne Kenntnis des Vorgängerromans gut lesbar und verständlich.

Der Vater war das ledige Kind einer Bauernmagd. „Die Familie des Ärmsten war besser dran als mein Vater und seine Mutter“ (S. 11) Der Junge wurde mit einem überdurchschnittlichen Verstand gesegnet, konnte schon vor Schulbeginn lesen und schreiben. Mit ein bisschen Glück und Protektion gelingt der Schritt aufs Gymnasium, doch kurz vor der Matura muss Josef in den Krieg, wo er ein Bein verliert. Im Spital lernt er Krankenschwester Gretel kennen. Beide gründen eine Familie, Monika wird eines von insgesamt vier Kindern und deren zweite Tochter sein.

Was sich nun anschließt, ist die Nachkriegsgeschichte einer Familie, die einiges an Schicksalsschlägen zu verwinden hat. Monika Helfer beschreibt ihre eigene Kindheit. Es gab glückliche Zeiten, als ihr Vater Leiter eines Kriegsopfererholungsheims in den Bergen auf der Tschengla war. Der Vater liebte den Wald, verehrte Bücher: „Ihm war sein ganzes Leben hindurch der Gegenstand ebenso wichtig wie der Inhalt. Das ist untertrieben. Heilig war ihm das Buch.“ (S. 21) Eine Liebe, die er an die Tochter weitergibt und deren Ziel es sein wird, ihren eigenen Namen einst auf einem Buchrücken lesen zu können. Es geht im Roman aber auch um Monikas Mutter, die wenig mit Menschen spricht, sondern häufiger mit den Tieren. Eine Mutter, die sich nicht um das Notwendige kümmert (das macht Tante Irma), die zwar präsent und doch irgendwie flüchtig erscheint.

Die Familie wird von Krankheit und Tod heimgesucht, die unbeschwerte Zeit auf der Tschengla findet ein jähes Ende und die Verhältnisse ändern sich vollkommen. Die vier Geschwister werden vor große Herausforderungen gestellt… Es ist große schriftstellerische Kunst, wie sich Monika Helfer als Erwachsene dem selbst Erlebten annähert, wie sie versucht, für die Eltern und besonders für den Vater Verständnis aufzubringen, warum er so gehandelt hat, wie er es tat.

Monika Helfer schreibt in kurzen, verdichteten Sätzen, die relativ nüchtern wirken, oftmals aber gerade durch ihre vermeintliche Schlichtheit große Resonanz beim Leser erzeugen: „Ich kann mich an die Vorlesestunden erinnern, nicht deutlich, aber hätte ich Worte gehabt, auch ich hätte gesagt: Das ist Glück. Dieses Wort, so will mir scheinen, kommt erst vor, wenn bereits das Gegenteil eingetreten ist. Dann erinnert man sich daran, wie es vorher gewesen war.“ (S. 55)

Die Autorin erzeugt Gefühl und Empathie, ohne große Emotionalität oder Sentimentalität zuzulassen. Das gelingt ihr auch durch eine Position aus der Distanz heraus: Sie schildert, aber sie (be)wertet nicht. Manch einen Satz muss man erst einmal wirken lassen, vieles bleibt ungesagt und steht zwischen den Zeilen: „Schon fast am Ende des Krieges war er (Ferdinand) eingezogen worden. Und wurde gleich zusammengeschossen und lag im Dreck, und ein Kriegsfahrzeug fuhr ihm über das Bein und ein nächstes über den Arm. Als er zurückkam, konnte er mit nichts mehr etwas anfangen…“ (S. 50) So wenige Worte für ein ganzes Schicksal!

Bildhaft werden Umgebungen, Gegenstände und Menschen beschrieben, wie sie sie als Kind wahrgenommen hat. Dabei werden alle Sinne angesprochen. Auch die verschiedenen Mitglieder der Großfamilie haben ihre Schwächen und sind völlig heterogene Typen. Wenn es aber hart auf hart kommt, wird Rat gehalten und man hält felsenfest zusammen. Das hat schon etwas sehr Imponierendes. Die Bagage hilft einander in der Not, ist füreinander da. Bei aller Tragik, die der kleine Roman verströmt, hat diese Erkenntnis etwas ungemein Tröstliches: Familie muss zusammenhalten, in guten wie in schlechten Zeiten.

„Vati“ ist ein überaus lesenswerter Roman, der mich von den ersten Seiten gefesselt hat. Der Sprachstil Helfers ist wunderbar. Das Buch lädt gewiss zu einer zweiten Lektüre ein und eignet sich bestens für Diskussionsrunden und Lesekreise. Große Empfehlung!