Ein Denkmal für den Vater

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sleepwalker1303 Avatar

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„Vati“ heißt der neue Roman von Monika Helfer, mit dem sie ihre Familiengeschichte aus „Die Bagage“ fortsetzt. Zugegeben, ich kannte die Autorin vorher nicht, aber das muss sich ändern. Denn mit „Vati“ hat sie für mich ein wirklich lesenswertes, wenn auch nicht ganz einfaches Werk abgeliefert. In „Die Bagage“ schreibt sie über die Familie mütterlicherseits, in „Vati“ konzentriert sie sich, wer hätte es gedacht, auf ihren Vater. Aber so plump, wie sich dieser Satz von mir liest, ist das Buch natürlich nicht. Ist die Geschichte wahr oder erfunden? „Beides, aber mehr wahr als erfunden.“ – das Erfundene ist vermutlich wichtig für die Annäherung an den Vater, denn in Wirklichkeit weiß sie gar nichts über ihn. Und so versucht sie, sich autofiktional an den besessenen Büchersammler anzunähern und die Lebensgeschichte des Mannes zu rekonstruieren, der sie geprägt hat und der in den 1980ern mehr oder weniger durch seine Bücherleidenschaft mit 67 Jahren zu Tode kam.
Ihr Vater wollte von den Kindern „Vati“ genannt werden, weil er es moderner findet. Und nach dem Krieg waren neue Zeiten angebrochen, auch er will fortschrittlich sein, „einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste“. Dieses „Hineinpassen“ zog sich wohl durch sein ganzes Leben. Als uneheliches Kind einer Magd geboren, war er schon früh ein Außenseiter. Zwar durfte er auf Initiative eines Bauunternehmers und des örtlichen Pfarrers aufs Gymnasium, wurde aber kurz vor dem Abitur zum Kriegsdienst eingezogen. In Russland verlor er durch Erfrierungen ein Bein und verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester Grete, die (als uneheliches Kind) ebenfalls eine Außenseiterin war. Die beiden „Versehrten“ gründeten eine Familie, geprägt von Depressionen und den Traumata der Kriegsgeneration, die auch an den vier Kindern nicht spurlos vorbeigingen.
Neben dem Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla, das er leitete, waren Bücher die wahre Leidenschaft von Monika Helfers Vater. Mit einer Menge Bücher, die er vom dankbaren Vater eines Gastes erbte, richtete er eine Bibliothek ein. Als das Heim von den Besitzern in ein Hotel umgebaut wurde, verlor er, der nach dem Krieg so gerne die Matura gemacht und Chemie studiert hätte, mehr oder weniger alles: seine Existenzgrundlage, seine Bibliothek und beinahe sein Leben durch einen Suizidversuch. Als seine Frau verstarb, verteilte er die Kinder auf die Verwandtschaft. Auch nach seiner Neuvermählung fand die Familie nicht mehr zusammen.
Die Autorin hält ihre Leserschaft stets auf Distanz. Sie liebte es als Kind, wenn ihr Vater mit einem geliehenen Filmprojektor im Speisesaal des Erholungsheims „Kino spielte“ – ähnlich kam ich mir beim Lesen des Buchs vor: wie jemand, der das Leben von anderen auf einer Leinwand sieht. Die Charaktere sind allesamt nur in den Einzelheiten beschrieben, die für die Geschichte wichtig sind. Exakt und auf den Punkt, kein Wort zu viel. So schreibt sie weitgehend emotionslos und nie wertend, manchmal sogar in aller Tragik lustig und voller absurd anmutender Anekdoten. Kompliziert fand ich, da ich „Die Bagage“ nicht gelesen habe, die Zeitsprünge und die vielen Tanten und Onkel in der Geschichte, vor allem, weil jeder zweite Josef zu heißen scheint.
Das Buch ist ein Denkmal für ihren Vater, einen Typ Mann, den es nach dem Krieg zu Tausenden gab. Einen traumatisierten, versehrten Kriegsheimkehrer, der in seinem Trauma und in sich selbst durch Schweigen gefangen zu sein scheint, manchmal aber eine Leidenschaft findet, die ihn glücklich macht und ihm eine Basis für das Miteinander mit anderen bieten kann („Wir hatten ein spezielles Buch-Verhältnis miteinander“). Mich hat das Buch tief berührt und angesprochen. Die viele Distanz im Buch machte mich allerdings traurig, sowohl die Distanz der Charaktere zueinander und die Mauer, die die Autorin zwischen der Leserschaft und den Charakteren zieht, fand ich fast greifbar. Von mir 5 Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.