Beeindruckend und erschütternd

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Alex Schulman „ Verbrenn all meine Briefe“. ( 2018/2022 )

Der 1976 geborene Alex Schulman ist einer der bekanntesten schwedischen Autoren der Gegenwart. Mit großer Begeisterung habe ich seinen 2021 auf Deutsch erschienenen Roman „ Die Überlebenden“ gelesen. Deshalb bin ich nun mit hohen Erwartungen an sein neues Buch herangegangen.
Nach einem furchtbaren Streit mit seiner Ehefrau wird Alex Schulman bewusst, dass er etwas tun muss. Seine unvorhersehbaren Wutanfälle drohen seine Ehe zu zerstören. Sogar die Kinder haben Angst vor ihm. Eine Therapie in Form einer Familienaufstellung soll zur Klärung beitragen und so eine Verhaltensänderung ermöglichen. Dabei wird gleich ersichtlich, wo er suchen muss, nämlich in der Familie seiner Mutter. Hier sind schon immer alle Familienmitglieder heillos zerstritten.
Das „ Wut- Zentrum“ findet Alex Schulman in der Person seines Großvaters Sven Stolpe. Der war und ist in Schweden eine Berühmtheit: Schriftsteller, Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Kritiker, tiefgläubiger Christ, ein Mann mit hohen Erwartungen an sich selbst und an seine nächste Umgebung. Als Kind hatte der Autor ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Großvater. Der machte zwar gerne Späße mit den Enkeln, gleichzeitig war er unberechenbar in seiner Wut.
Alex Schulman beginnt nun sich näher mit seinem Großvater zu beschäftigen und stößt dabei auf das Jahr 1932. Hier muss das Schlüsselerlebnis liegen, das alles verändert hat. Doch was ist damals tatsächlich geschehen?
Das Ehepaar Stolpe war Gast im Hause der Sigtuna - Stiftung. Hier trafen sich junge Autorinnen und Autoren zum Arbeiten und zum gemeinsamen Austausch. Dabei trifft die verheiratete Karin Stolpe den jungen Dichter Olof Lagercrantz, eine schicksalhafte Begegnung. Die beiden verlieben sich heftig ineinander. Karin will sich von ihrem dominanten Ehemann trennen, doch Sven weiß das mit allen Mitteln zu verhindern. Damit ist das Leben aller Beteiligten für immer geprägt. „Der eine geht in eine lebenslange Finsternis ein. Der andere hört niemals auf zu träumen.“ Und Karin harrte aus, neben dem ungeliebten Ehemann. „Sie schrumpfte mit geradem Rücken.“
Alex Schulman erzählt auf drei Zeitebenen diese Geschichte.
Auf der Gegenwartsebene beschreibt er beinahe dokumentarisch seine Recherchearbeit und das, was dies bei ihm auslöst. Da sowohl Sven Stolpe als auch Olof Lagercrantz bekannte Persönlichkeiten waren, gibt es eine Unmenge an Material. Nicht nur deren poetisches Werk, sondern auch auf Tagebücher und Briefe konnte Alex Schulman zurückgreifen. Während sich bei Sven Stolpes Romanen als immer wiederkehrendes Motiv die treulose Ehefrau finden lässt, so hat Olof Lagercrantz seine Liebe zu Karin in vielen Gedichten beschworen.
Zwischen diesen Text aus der Gegenwart flicht der Autor zwei weitere Erzählstränge, die in die Vergangenheit führen.
Dabei geht er zum einen ins Jahr 1988, als er bei seinen Großeltern zu Besuch ist. So wirft er aus der kindlichen Perspektive einen kritischen Blick auf seinen Großvater, der seine Frau dominiert und schikaniert. Spürbar ist dabei die Liebe des Enkels zur Großmutter, die geduldig und demütig das furchtbare Verhalten ihres Mannes erträgt. Nicht ohne Grund widmet ihr Alex Schulmann sein Buch.
Im Zentrum des Romans steht aber das Schicksalsjahr 1932. Hier erlebt der Leser eine Liebesgeschichte voller Gefühl und Dramatik, eine Liebe, die, obwohl sie nicht gelebt werden konnte, ein Leben lang andauert. Davon zeugen die Liebesbriefe ( Auszüge finden sich im Buch ), die Olof an Karin gesendet hat und die sie sechzig Jahre lang heimlich gehütet hat wie einen Schatz. Mit ihnen konnte sie sich in „ das Land, das nicht ist“ hinein träumen.
Alex Schulmann beschreibt diese Liebesgeschichte einfühlsam und berührend und voller Poesie. Das ist herzzerreißend. Gleichzeitig liest man ungläubig und schockiert, was sich Sven Stolpe alles einfallen lässt, um diese Liebe zu unterbinden.
Das Buch hat mich ungeheuer beeindruckt und erschüttert. Beeindruckt, mit welcher Aufrichtigkeit der Autor an das Erkunden der eigenen Familiengeschichte herangeht, ohne Schonung sich selbst und anderen gegenüber. Trotzdem ist das Buch keine Abrechnung geworden, sondern ein Versuch, zu verstehen.
Erschüttert, weil diese große Liebe nicht zu einem gemeinsamen Glück geführt hat, sondern zu einem verfehlten Leben der drei Beteiligten und gleichzeitig negative Auswirkungen auf die nächste Generation hatte.
Für den Autor scheint es Hoffnung zu geben, sich von den alten Verhaltensmustern lösen zu können. Der Schlusssatz legt zumindest nahe, dass er einen Neuanfang gemeinsam mit seiner Ehefrau versuchen möchte.