Einfach nur wow.

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fraedherike Avatar

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Manchmal reichen ein paar Worte aus, um ein Leben zu verändern. Sie wisse nicht, wie oft sie es noch ertragen könne; die Angst in den Augen ihrer Kinder, die Wut, die er in sich trägt, schwelend und bedrohlich. Alexander ist wie vor den Kopf gestoßen. Und doch muss er kennen: Seine Frau hat Recht. Immer öfter fallen ihm Situationen ein, in denen er das ängstliche, geradezu schreckhafte Verhalten seiner drei kleinen Kinder nicht deuten konnte, empfand es als eine Art Respekt. Aber niemals hätte er gedacht, dass sie Angst vor ihm haben könnten! Im Rahmen einer Gesprächstherapie wird ihm deutlich, dass diese Wut schon immer Teil seiner Familie war, dass alles von seinem Großvater Sven Stolpe ausgeht. Doch was löste in dem einstigen Schriftsteller diese tiefverankerte, Generationen fortwirkende Wut aus? Alexander begibt sich auf Spuren seines berühmten Großvaters – und stößt dabei auf die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die nicht hatte sein sollen.

„Wenn du mir jemals untreu bist, werde ich als Erstes ihn erschießen. Dann dich. Und zuletzt mich selbst.“ (S. 189)

Behutsam tastet sich Alex Schulman in seinem Roman „Verbrenn all meine Briefe“ (OT: Bränn alla mina brev, aus dem Schwedischen von Hanna Granz) an den Ästen seines Familienstammbaums hinab zu den Wurzeln der Wut, die sich wie eine Krankheit über die Familie ausgebreitet, einst einander nahestehende Menschen voneinander getrennt hat. Anhand echter Briefe und Tagebucheinträge von seinen Großeltern und Olof Lagercrantz‘, dem Geliebten Karins, sowie verschiedenen Dokumenten aus dem Universitätsarchiv rekonstruiert Schulman das die Beziehung seiner Großeltern Karin und Sven Stolpe prägende Jahr 1932 und die Auswirkungen, die es für sie – und letztlich auch ihre Familie – haben wird. In chronologischen, immer bedrückender, schmerzlicher werdenden Ausschnitten lässt er seine jungen Großeltern lebendig werden, beschreibt, mit welchem Furor und brennender Überzeugung Sven an neuen Veröffentlichungen arbeitete, mit Karin umsprang und sie immer wieder bloßstellt und benutzt, lässt ihn jedoch nie selbst zu Wort kommen. Ganz anders: Karin. Die junge Frau, selbst arrivierte Literaturübersetzerin, die sich stets im Schatten Svens befindet, erfährt mit der zarten Liebe zu Olof eine neugewonnene Leichtigkeit, wächst mit jedem flüchtigen Blick des Studenten – doch die Angst, dass Sven ihre Affäre entdecken könnte, macht sie matt. Sie hat Angst vor ihm, seiner Wut und zu was er fähig ist.

Schulman vermag es, mit wenigen Worten komplexe, ausdrucksstarke Charaktere zu zeichnen, die einen nicht mehr loslassen. Seite um Seite habe ich mit Karin, dieser starken, gebrochenen Frau, gefühlt, zuckte bei jedem Geräusch in banger Erwartung Svens zusammen, weinte mit ihr ob der Erfahrungen, die sie bereits in jungem Alter – und in der Ehe mit Sven tagtäglich – machen musste. Und hoffte bis zuletzt, dass sie sich von ihm befreien, ein glückliches Leben voller Liebe, ohne Angst, würde führen können. Geradezu ängstlich, worauf seine Recherchen hinauslaufen würden, streut Schulman immer wieder Erinnerungen an einen Urlaub bei seinen Großeltern im Jahr 1988, seine Wahrnehmung des allmächtigen Svens und seine zufällige Entdeckung, und sein gegenwärtiges Spurenlesen, Reflektieren und Zusammensetzen der Puzzleteile ein. Respektvoll, geradezu dankbar geht er dabei mit seinem Erbe, den Erinnerungen, die ihm ein Schlüssel zu ihm selbst sein sollen, um, und diese Dankbarkeit ist mit jedem Wort spürbar. Er hat seiner Großmutter Karin eine Stimme gegeben, der Frau, die sich immer im Hintergrund, hinter ihrem Ehemann, hielt, die immer still war, ausgehalten und ertragen hat und es nie schaffte, das Leben, das sie sich wünschte, zu führen. Nun, gut zwanzig Jahre nach ihrem Tod, tritt sie aus dem Schatten - und wie! Die tragische Liebesgeschichte Karin und Olofs hat mich mitten ins Herz getroffen, und da werde ich dieses Buch auch noch lange tragen.