Familiäre Abgründe

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Furcht liegt in der Familie, ein niederschmetterndes Gefühl, und Alex ahnt, dass es Gründe dafür gibt, Gründe, die in der Vergangenheit liegen, denen er auf den Grund gehen muss, um seinen Kindern diese diffuse Angst zu nehmen. Er begibt sich auf die Suche und gelangt schnell zu seinem Großvater, dem großen schwedischen Autoren Sven Stolpe, ein Unikat, meinungsstark, mit aller Heftigkeit, drängend. Seine Recherchen führen ihn zurück in das Jahr 1932, kurz nachdem Sven Alex' Großmutter kennenlernte und bald heiratete. In diesem Jahr verliebt sich Karin, eine Liebe, die nicht nur so gegensätzlich zu ihrer Beziehung mit Sven ist, sondern die auch Befreiung verspricht, die Karin die Möglichkeit offeriert, wieder die zu werden, die sie einmal war. Denn die Beziehung mit Sven hat sie verändert, hat sie in sich verschlossen, unsicher und zögerlich werden lassen. Alex taucht immer tiefer in diese Zeit ein, sichtet Briefe und Tagebücher der Beteiligten, und nach und nach sickern die eigenen Erinnerungen an seine Großeltern in sein Gedächtnis. Ein Bild vervollständigt sich...

„Es bin nur ich, die manchmal darüber nachdenkt, wie das Leben geworden ist, wie ich hier gelandet bin, und über Dinge, die nie geschehen sind“ (S. 261)

Seinen endgültigen Durchbruch als Autor erreichte Alex Schulman, dessen Debüt „Die Überlebenden“ im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien, mit „Verbrenn all meine Briefe“, ein Roman, der die Schwelle zwischen Biographischem und Fiktionalem mit großer Leichtigkeit hin und her überschreitet. Hier wird der Blick auf eine Familie in all ihrer Brüchigkeit geworfen, eine Familie voller Geheimnisse, transgenerationaler Traumata und narzisstischer Toxizität.

Es gelingt Alex Schulman bravourös, die eigene Involviertheit zu Beginn deutlich herauszustellen, um sie im Laufe der Narration gekonnt hintanzustellen. Nie verfällt er in einen larmoyanten oder Mitleid heischenden Tonfall, sondern fokussiert sich in seiner Erzählung voll und ganz auf das Triumvirat Sven, Karin und Olof Lagercrantz. Die Mechanismen vollziehen sich in diesem Dreieck aus Lust und Hass, aus Wut und Zuneigung, aus unbeschwerter Freiheit und zum Bersten gespanntem Druck – und die Traumata entblättern sich in all ihrer Unfassbarkeit, je mehr Quellen Alex inhaliert. Die chronologischen Sprünge zwischen auf der einen Seite 1932, dem Jahr des „sexuellen Attentats“, wie es Sven Stolpe in all seiner Theatralik beschreibt, auf der anderen Seite 1988, aus der Vergessenheit aufsteigende Kindheitserinnerungen, und der gegenwärtigen Recherche ziehen die Narration mit großer Cleverness immer mehr zusammen, verdichten die Ereignisse, dampfen die Erinnerungen zur großen Conclusio ein. Es fällt schwer, Sven Stolpe nach all diesen Berichten noch auf sein literarisches Schaffen zu reduzieren, auf seine Arbeit als schwedischer Erfolgsautor. Zu groß sind die Vergehen, die er sich seiner Frau gegenüber geleistet hat, zu groß seine narzisstischen Ausprägungen, die Gift in die Familie geleitet haben. Schulman gelingt es jedoch, die Distanz zu wahren, seine Reflexionen auf Abstand zu halten. Diese Nüchternheit und Sachlichkeit ist wichtig für die Romanhandlung und schafft gerade dadurch die Option zur eigenen Bewertung.

„Verbrenn all meine Briefe“ ist persönliches Statement und kammerspielartiger Roman, ist Abrechnung ohne Wertung und spannende Familien- und Liebesgeschichte. Schulman hält sich sprachlich zurück, lässt mit einem sehr ruhigen, manchmal vielleicht etwas zu deskriptiv-harmlosen Stil der Geschichte jeglichen Raum. Schier fassungslos blickt man darauf, welche Strapazen und Herabwürdigungen Karin zu ertragen im Stande ist, wie die Machtlosigkeit von ihr Besitz ergreift. Und doch: Die eine oder andere Ecke und Kante hätte sich Schulman erlauben können, um bei allem Zurückstellen seiner eigenen Person doch etwas nahbarer als handelnder Ich-Erzähler zu werden. Aber auch so: ein beeindruckend dichtes und emotional gefangen nehmendes Buch eines autofiktional schreibenden Autoren mit Weitsicht!