Für Karin

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
martinabade Avatar

Von

Endlich! Da ist sie wieder: die Literatur. Keine Autofiktion von jemandem, der denkt: Das ist ja MEIN Leben, natürlich kann ich das aufschreiben. Literatur wird das dann schon von selbst. Denkste.

Literatur wird ein solcher Stoff, wenn der Autor alle Figuren, Handlungen und Zusammenhänge von der Metaebene aus betrachtet und in den Erzählfluss einwebt. Das kann Alex Schulman perfekt. In „Verbrenn all meine Briefe“ deckt er Schicht für Schicht, verwöhnt von einer umfangreichen Quellenlage, die Tragödie seiner eigenen Großmutter auf. Warum die Kritik vereinzelt zu dem Ergebnis kommt: „Sein Buch ist kein Krimi und könnte doch aufregender nicht sein.“ erschließt sich mir nicht. Dieses Buch ist Vieles und natürlich auch ein Krimi.

Anfang der 30er Jahre begegnen wir dieser Großmutter Karin als junge Frau. Als lebenslustige, kluge und berufstätige Ehefrau, verheiratet mit Sven Stolpe, für den kleinen Alex: Großvater. Der war zu diesem Zeitpunkt schon ein bekannter Schriftsteller in Schweden. Heute ist sein Wikipedia-Eintrag eher schmal. Doch was an der Oberfläche so traut und liebevoll scheint, ist die blanke Ehehölle. Sven, der sein Leben lang ein kompliziertes Verhältnis zum Christentum hatte, ist hinter den Türen ein zynischer Despot, ein grausamer Narzisst, ein riesiges selbstverliebtes theatralisches Mistvieh. Ein weißglühender Wütiger, ein Hater (wie man heute sagen würde), ein Histrioniker, der auch selbst ins Risiko geht, wenn er seiner Ehefrau damit Schmerzen bereiten kann. Karin kann ihm bis ins hohe Alter nicht entfliehen, sie bleibt bei ihm, er „liebt“ sie förmlich zu Tode. Und dies mit einer stets überschäumenden Wut, die ständige Kränkung des Narzissten wie im Bauchladen vor sich hertragend. Aber auch mit kalter Berechnung: seit jungen Jahren leidet er unter Tuberkulose, und mit großem Verve gibt er den Todgeweihten. Karin hat ihm vor der Heirat gebeichtet, dass sie bereits einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich hat, der Selbstgerechte jubiliert. Als sie den Schriftsteller Olof Lagercrantz kennenlernt und eine Affäre mit ihm beginnt, spitzen sich die Dinge zu.

Das ist alles nichts für schwache Gemüter und aus der heutigen Perspektive schwierig nachzuvollziehen. Aber auch ich kenne in meiner Familie so einen großen und brutalen Despoten, Jahrgang 1934. Bis vor zwei Jahren hat er sein Unwesen unter uns getrieben.

Schulman wird in seinen Schilderungen zum einen der Liebe zwischen Karin und Olof nie kitschig. Dabei helfen ihm die erhalten gebliebenen Briefe der Beiden. Auch in der Betrachtung seiner gegenwärtigen Situation und des eigenen Wütens hält er immer gesunden Abstand zur Rührseligkeit.

Ich wünsche mir eine Fortsetzung, die den Großvater und sein Wesen genauer betrachtet und untersucht, denn: Diese Figur hat uns viel mehr zu sagen als im vorliegenden Band.