Tolle Auseinandersetzung mit der eigenen Familie

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Zuerst wurde Schulmanns Roman „Die Überlebenden“ in Deutschland veröffentlicht. Ein großes Buch, welches ich mit großem Genuss und Gewinn gelesen hatte.

Nunmehr legt dtv das zweite Buch Schulmanns in deutscher Übersetzung vor. „Verbrenn all meine Briefe“ entstand gleichwohl vor dem genannten Bestseller „Die Überlebenden“.
Schulmann selbst legt Wert darauf, dass es sich bei dem Buch „Verbrenn all meine Briefe“ um einen Roman handelt. Das mag zwar formal korrekt sein (und wer wenn nicht der Autor selbst legt am Ende fest, in welche Kategorie das Buch einzuordnen ist). Gleichwohl handelt es um sehr viel mehr als einen ‚normalen‘ Roman.

Schulmann schreibt über seine eigene Familie. Ausgehend von Selbstzweifeln und die Frage, woher die Wut kommt, die er mitunter in sich spürt und die auch von seinen Mitmenschen – nicht zuletzt den Mitgliedern seiner eigenen Familie – negativ wahrgenommen wird. Er glaubt, dass diese Wut bereits bei seiner Mutter und bei seinem Großvater mütterlicherseits zu spüren war und setzt sich in den Kopf, mehr über diesen Großvater in Erfahrung zu bringen.
Er beginnt zu recherchieren, was genau sich im Sommer 1932 zwischen seinen Großeltern und dem späteren bekannten Autor und Journalist Olof Lagercrantz abgespielt hat. Nur soviel: Es gibt ein gut gehütetes Geheimnis betreffend seine Großeltern, über welches innerhalb der Familie wenig bekannt ist.

Schulmann wechselt zwischen einer anhand von realen Briefen und Tagebucheinträgen nacherzählten Handlung in 1932, seinen Erlebnissen bei seinen Großeltern im Alter von 12 Jahren im Jahr 1988 und der Gegenwart.
Heraus kommt ein fesselndes Buch/Roman/Bericht über ein selbstherrliches und grausames Familienoberhaupt, über Fehltritte und deren jahrzehntelange Bestrafung, über Selbsterniedrigung, über ein Leben ohne Freude im Bewusstsein, die größte Liebe des Lebens aufgegeben zu haben.
Ich schreibe diese Beurteilung bewusst ohne Namen oder Geschlechterangabe, um Spoiler zu verhindern.

Im letzten Teil des Buches erfährt man als Leser eine weitere Wahrheit, die all das zu diesem Zeitpunkt bereits Gelesene nochmals in ein anderes Licht rückt oder besser gesagt den Lichtkegel heller und schärfer stellt.
Beeindruckend, wie tief sich Schulmann in die Geschichte seiner Familie eingearbeitet und wie gut er recherchiert hat. Im Ergebnis setzt er die einzelnen Puzzleteilchen zu einem großen, aussagekräftigen Bild zusammen.

Der Titel des Buches findet sich in der Handlung wieder. Ein Charakter sieht das Verbrennen aller Briefe als einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Vor wem verrät das Buch!

Das Buch ist ein Pageturner, als Leser möchte man immer wissen, wie es weitergeht. Das spricht für einen Roman. Das Buch ist gleichermaßen die Geschichte einer Familie – z.T. autobiographisch erzählt. Das hat viel von einer (Auto)Biografie oder einem Bericht.

Die Sprache Schulmanns ist toll – das Buch lässt sich sehr gut lesen. Es sollte auch ohne große Leseerfahrung gut machbar sein.
Eine klare Empfehlung für jeden/jede/jedes mit oder ohne Familie.