Wenn man Monster bekämpft, wird man leicht selbst eins

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buecherfan.wit Avatar

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In seinem Roman “Vergeltung” wendet sich Don Winslow einem neuen Thema zu. Hier geht es nicht mehr um Drogen, Surfer oder kalifornischen Lifestyle, sondern um den Kampf gegen den Terror. Elitesoldat
Dave Collins, ehemaliger Delta-Force-Operator an vielen Kriegs- und Krisenschauplätzen der Welt arbeitet seit seinem Abschied vom aktiven Militärdienst als Federal Security Officer am John F. Kennedy-Airport. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung kann er potentielle Attentäter erkennen und  verhindert so zu Romanbeginn einen Selbstmordanschlag am Flughafen. Am selben Tag stürzt eine Maschine über dem Brooklyn Battery Tunnel in NewYork ab und reißt etwa 800 Menschen im Flugzeug und außerhalb in den Tod. An Bord befanden sich auch Daves Ehefrau Diana und der gemeinsame Sohn Jake. Die Regierung behauptet, es sei ein Unfall in Folge eines technischen Defekts gewesen. Dave versinkt in bodenloser Trauer. Als er sich gerade umbringen will, legt ihm ein bisher Unbekannter Beweise vor, die zeigen, dass es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Die Regierung will die Wahrheit unter Verschluss halten, weil sie nicht in immer neue Kriege gegen den Terror hineingezogen werden und nicht zugeben will, dass dem Feind erneut ein Anschlag auf amerikanischem Boden gelungen ist. Dave Collins will das nicht hinnehmen. Er kann die Angehörigen der Opfer davon überzeugen, ihm die Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe ganz oder teilweise zu überlassen und bekommt so 280 Millionen Dollar für die Finanzierung eines privaten Rachefeldzugs zusammen. Er engagiert seinen früheren Vorgesetzten Mike Donovan mit seiner Söldnertruppe aus der ganzen Welt und entwirft mit Donovan einen Plan, der die Schützen und ihren Auftraggeber zur Strecke bringen soll. Hauptziel ist der Terrorist Aziz, ein moderner, weltgewandter Islamist, der nichts mehr mit den früheren religiösen Fanatikern und Möchte-gern-Märtyrern zu tun hat, sondern vor allem von seiner Gier nach Geld und Macht bestimmt wird.
Auf fast 500 Seiten erzählt Winslow in rasantem Tempo die Geschichte einer komplizierten, gefährlichen Verfolgungsjagd rund um den Erdball, die an einer Bergfestung in Indonesien endet. Sie verlangt den Männern das Äußerste ab und ist vor allem für den Feind äußerst verlustreich. Wie immer hat der Autor sorgfältig recherchiert und lässt den Leser mit enormer Detailfreude an seinem Wissen über High-Tech-Waffen und moderne Kriegsführung teilhaben. Die technischen Details nehmen sehr viel Raum ein - genauso wie die unendlich vielen Abkürzungen, die zwar jeweils erklärt werden, aber den Lesefluss doch entscheidend stören. Auffällig ist auch der durchgängig benutzte Militärjargon, der die literarische und ästhetische Qualität des Thrillers nicht gerade verbessert.
Wie sich schon kurz nach der Veröffentlichung zeigt, polarisiert der Roman sehr stark, nicht nur unter den Vorablesenmitgliedern, sondern auch bei den Kritikern. Die einen haben einen sehr modernen, rasanten Thriller gelesen, ein hochpolitisches Werk, andere vergleichen “Vergeltung” mit Landserheften oder Bahnhofsbuchhandlungslandserschockern  und sprechen von Waffenhändlerprosa. Mich hat Winslows Roman enttäuscht. Sowieso mag ich keine ultraharten Gewaltorgien, aber “Vergeltung” hinterlässt bei mir ein starkes Unbehagen. Ethische Fragen nach der Rechtfertigung für Selbstjustiz werden - wenn überhaupt - nur gelegentlich angedeutet und zugunsten des “guten" Tötens entschieden. Wenn es darum geht, den Tod Tausender unschuldiger Menschen zu verhindern, dürfen die Guten die Bösen töten und können gut mit ihren Taten leben. Entsprechend emotions- und mitleidlos berichtet der Autor  über den Tod der Gegner (“Der Schuß sprengt den vorderen Teil von Dahirs Kopf ab. Blut und Hirnmasse klatschen Dave ins Gesicht. (…), und in genau diesem Moment trifft Willems Schuss das, was vom Schädel des Saudis übrig ist.” S. 336). Solche Stellen sind zahlreich im Roman. Töten und Mensch bleiben - das ist schwer zu vereinbaren (“Wenn man Monster bekämpft, wird man leicht selbst eins.” S. 237). Die Hauptsache ist, dass die Mission erfolgreich ist. Am Ende steigen weiße Tauben zum Himmel auf wie “Heimwehkranke Engel” (S. 490).