Von großen und kleinen Lügen

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missmarie Avatar

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"Ich weiß genau, dass die Menschen auf der Straße keine Richter brauchen - sie urteilen selbst. Und ihr Urteil ist viel unerbittlicher als das der Justiz."

Wem soll man glauben, wenn plötzlich mehrere Formen der Wahrheit im Raum stehen? Welches Bild macht man sich von einem Menschen? Wenn er alleinerziehend ist? Oder auf Partys geht? Oder eine strahlend-verbindliche Fernsehmoderatorin ist? Vorteile und Annahmen über Frauen stehen im Vordergrund von Eva Björg Ægisdóttir zweitem Islandkrimi "Verloren". Denn im Zentrum steht eine alleinerziehende Mutter, die plötzlich verschwindet und Monate später Tod aufgefunden wird. Da sie Drogen genommen hat, glaubt anfangs keiner an einen Mord. Doch die Spuren an der Leiche sprechen eine andere Sprache.

Eva Björg Ægisdóttir glingt es, das Genre Krimi in ihrem Roman neu zu denken. Das beginnt schon damit, dass sie ihr Ermittlerteam um Elma selbstkritisch auf die eigene Arbeit blicken lässt. Denn sie waren es, die im Mai nach dem Verschwinden der Frau ermittelt haben. Wie sich nun, im Dezember, herausstellt, waren sie doch ein wenig voreingenommen. Das rächt sich - und bietet auch erfahrenen Krimilesern einen neuen Blick auf die Ermittlungsarbeit. Besonders gelungen ist allerdings das Spiel mit den Erwartungen der Leser*innen. An dieser Stelle möchte ich nicht zu viel verraten, aber über weite Strecken hält der Leser eine der Figuren für jemand ganz anderen und erlebt am Ende - nach kurzer Verwirrung - eine ziemliche Überraschung.

Doch nicht nur die erzählerisch erfrischenden Neuinterpretationen der Kriminalerzählung machen "Verlogen" lesenswert. Die Handlung ist hochspannend, ohne blutrünstig zu sein oder auf psychologische Schockelemente zu setzen. Dennoch zeichnet sie ein feines Bild der Psyche aller Figuren und auch einer Dorfgesellschaft.

Ein Lesetipp für die Zeit, wenn die Tage wieder kürzer werden.