Ein Roman, der sich Zeit lässt

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nathi_taiwan Avatar

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„Wenn du mir das alles zeigst, die ganze Schönheit hier, und denkst, dass ich das auch sehe… dann solltest du wissen, dass alles verblasst neben dem, was ich vorher gesehen habe. Das Lila da …“, sie machte eine Handbewegung zu den Heidelbeeren, „erinnert mich an ihre Rippen, so heftig wurde auf sie eingeprügelt. Das blaue Wasser, das sind ihre Augen, ganz klar, man sieht sofort, dass keine Seele mehr darin wohnt. Du kannst die Luft atmen und für frisch halten, aber ich hole kein einziges Mal Luft, ohne den Stich zu spüren.“

Solche Worte aus dem Mund einer Dreizehnjährigen! Duchess und ihr sechsjähriger Bruder Robin wachsen mit einer psychisch labilen und alkoholabhängigen Mutter Star in einem nach außen hin idyllischem Küstenort in Kalifornien auf, sodass die mutige und zornige Duchess schon früh lernt, auf eigenen Beinen zu stehen und sich um ihren Bruder zu kümmern. Zerstört wurde das Leben von Star vor vielen Jahrzehnten, als ihre kleine Schwester von dem gleichaltrigen Vincent getötet wurde. Dieses Ereignis bedeutete einen Schnitt in das Leben von Star, Vincent, Vincents Freund und späterem Chief Walk, aber auch in das Leben der nachfolgenden Generation von Duchess und Robin. Verzweifelt versuchen die einzelnen Charaktere aus dieser Episode ihres Lebens, die für immer stehen geblieben zu sein scheint, auszubrechen.

Besonders gelungen fand ich die Figur der jungen Duchess. Chris Whitaker schafft es auf poetische Weise, ihren Zorn und ihren Hass aus ihren Augen und in ihren Handlungen brodeln zu lassen – ein Hass, der sie fast zu verschlingen droht. Als Leserin weiß man, dass dieser früher oder später aus ihr herausbrechen wird und in einer Katastrophe münden wird und fiebert diesem Ereignis mit Spannung entgegen. Dennoch ist es ein Roman, der sich Zeit lässt, der langsam und Schritt für Schritt das Innenleben seiner Figuren entfaltet und uns ihre Verzweiflung und Zerrissenheit präsentiert. Wer also eine Geschichte erwartet oder lesen möchte, mit viel Action, Angst und Spannung ist hier also an der falschen Adresse. Das interessante ist nämlich, dass das Buch im englischen Original als „Thriller“ vermarktet wurde (was mich davon abgehalten hätte nach diesem Buch zu greifen), der Piper Verlag sich jedoch für den Zusatz „Roman“ entschieden hat. Die bessere Wahl, wie ich finde!

Am Ende werden alle Stränge auf tragische und doch logische Weise zusammengeführt – und auch, wenn es nicht unbedingt ein Ende ist, welches wir Duchess, Robin, Vincent und Walk wünschen, passt es zur Stimmung und zur Atmosphäre des Romans. Ich werde gedanklich noch länger bei den Figuren bleiben!