Eingeholt von der Vergangenheit

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ute54 Avatar

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Das Cover passt perfekt zur Handlung, denn wir beginnen am Ende (Titel der englischen Originalausgabe “We Begin at the End”) heißt es mehrfach im Buch und bedeutet, dass die Geschichte am Ende beginnt und sich immer weiter zum Ursprung der Geschehnisse vorarbeitet und erst ganz zum Schluss eine völlig überraschende Lösung liefert. Somit ist das Cover oben schwarz, präsentiert dann bedrohliche Wolken und zeigt unten einen aufgehellten Himmel über einem goldgelben Weizenfeld.
Es ist wichtig, dass der Roman in den USA spielt, und auch die Übersetzung ist geglückt, denn die Personen sprechen und handeln authentisch, den Bedingungen entsprechend.
Die ganze Dramatik wirkt sich auf das Leben von vier befreundeten Jugendlichen aus, als Vincent den Tod der kleinen Schwester seiner Freundin Star verursacht. Es handelt sich dabei aber um einen Unfall! Hinzu kommt, dass Star ihre Aufsichtspflicht verletzt hat. Die amerikanische Justiz wertet die Sachlage aber als Mord und brummt dem 15-jährigen Vincent eine 30-jährige Haftstrafe im harten Erwachsenenstrafvollzug auf. Mich hat das Verhalten dieser Figur besonders aufgerüttelt und belastet. Vincent gibt sich ganz seiner Seelenqual hin. Er will büßen, sich an sich selbst rächen, bei vorgefassten Prinzipien bleiben und lehnt eine verfrühte Entlassung ab.
Sein Verhalten das als schizophren anmutet, wird immer undurchsichtiger, besonders nach den Offenbarungen am Schluss. Warum büßt er, vernachlässigt jedoch ihm nahestehende Personen? Er will selbstlos sein, was wird aber passieren, wenn andere die grausame Wahrheit erfahren? Man kann ihn als “tragischen Held” bezeichnen! Besonders die weibliche Protagonistin, Duchess, welche sich um ihren 5-jährigen Bruder und ihre Mutter, haltlos, drogensüchtig, alkoholabhängig und depressiv kümmert ist herausragend beschrieben, denn als 13-jährige ist sie total von der Haushaltsführung und allen anderen Aufgaben überfordert. Deshalb reagiert sie so überaus aggressiv, ohnmächtig und wütend, um ihre tiefe Verletzlichkeit zu überspielen und stark zu sein. Sie bezeichnet sich als “outlaw”, ist nie ein Kind gewesen und driftet in kriminelles Verhalten ab, denn sie kann ihre Reaktionen oft nicht kontrollieren. Für mich ist sie eine typische “Systemsprengerin”.
Der zweite Protagonist ist Walk, Vincents Jugendfreund, der trotz aller sich häufenden Anklagen nach Vincents Entlassung zu ihm hält, ihn für unschuldig hält und sein Wissen als Polizist nutzt, um ihn vor dem Tod zu retten. Zwischen ihm und Vincent findet jedoch keinerlei Kommunikation statt, da sich der ehemalige Häftling völlig verschließt. Das hat zur Folge, dass Walks Bemühungen umsonst sind, da wichtige Fakten verschwiegen werden. Der schwerkranke Polizist befindet sich zum Schluss in einer Ohnmacht.
Die Handlung gewinnt dadurch an Spannung, dass viele Dinge zunächst nur angetippt werden, um dann, wie bei einem Puzzle, zur Lösung beizutragen. Es gibt viele Wendungen, etliche Verflechtungen der Charaktere untereinander, blutige Schießereien und Leichen. Jede Figur hat eine sehr individuelle Ausgestaltung. Die Tragik und Dramatik nimmt ihren Lauf! Dabei wird die Handlung immer wieder durch philosophische Betrachtungen und gekonnte Landschaftsschilderungen unterbrochen, die oftmals den Seelenzustand der Protagonisten reflektieren.
Diese Vielfältigkeit wird durch zwei sich abwechselnde Erzählperspektiven, der von Walk und der von Duchess, unterstützt. Besonders gut hat mir die sehr einfühlsame und emotionale Erzählweise des Autors gefallen. Hinzu kommt neben der inhaltlichen und sprachlichen Ausgestaltung, dass er sich nicht an einem Genre festhält, sondern Familientragödie und Krimi miteinander kombiniert. Mich hat dieser Roman daher besonders gefesselt. Ich habe immer wieder Pausen der Reflektion eingelegt, um den jeweiligen Sachstand zu “verdauen” und die Seelenzustände der Figuren psychologisch zu interpretieren.
Für mich ist Whitakers Roman “Von hier bis zum Anfang” überaus lesenswert bereichernd und spannend bis zum Schluss.