Bewegende Dokumentation eines dunklen Kapitels europäischer Geschichte

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Mit diesem Sachbuch liegt uns ein authentisches Zeitzeugnis in Tagebuchform vor, wie wir es von Anne Frank kennen. Vor der Zeit im Warschauer Ghetto und sogar während des Aufenthalts darin bemühen sich die Menschen, den gewohnten Alltag so gut als möglich aufrechtzuerhalten. Anfangs klingen die Aufzeichnungen der jungen Mary Berg (Mirjam Wattenberg) optimistisch und mutig, doch später durchsetzt von Angst, wenn die Repressalien zunehmen und die Realität immer deutlicher wird: Es gibt kein Entkommen aus der Nazihölle. FAST kein Entkommen. Denn ihre Mutter ist Amerikanerin, und so gehören die Wattenbergs zur privilegierten Schicht, beneidet von den andern Juden. Immerhin wird ihnen von der Familie Schutz gewährt, etwa wenn die braunen Horden die Ghetto-Unterschlüpfe (die meist elenden Löcher können wohl kaum als Wohnungen bezeichnet werden) stürmen. Ein Stück Papier mit der amerikanischen Flagge, an die Wohnungstür geheftet, bezeichnet die Autorin den Familientalisman.

Berg berichtet vom Grauen, von Verzweiflung und Verrat, aber auch von Tapferkeit und gegenseitiger Unterstützung. Russische Bomben, Hunger, mangelnde medizinische Versorgung und Epidemien, tägliche Gewalt, der schwierige Umgang mit der jüdischen Polizei, Internierungslager und schliesslich die Flucht per Schiff sind weitere Themen, sehr packend und nahe gehend geschildert.

Der Schreibstil ist der eines jungen Mädchens der gehobenen Klasse, heiter, leicht, durchaus farbig. Sehr anschaulich, aber doch mit einer gewissen Distanziertheit (geschuldet dem zeitlichen Abstand bei der Überarbeitung in Amerika?) und ohne jede Larmoyanz wird selbst über die grössten Schrecken berichtet.

Aus dem Warschauer Ghetto hat bisher erst Marcel Reich-Ranicky berichtet, dem es ähnlich wie Mary Berg und zur selben Zeit gelungen ist, zu fliehen. Es ist ein wichtiges Stück europäischer Geschichte. Und wenn wir uns davon abwenden und sagen, vergessen wir doch endlich das alles, dann leisten wir Vorschub. Wem? Jenen Rassisten, die bereits wieder gewaltig auf dem Vormarsch sind. Die Gräuel des "tausendjährigen Reiches" dürfen sich nicht wiederholen!