Unschätzbares Zeitdokument

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singstar72 Avatar

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Ich finde es ungeheuer schwierig, ein Buch zu „bewerten“, das von wahren Gräueltaten im Warschauer Ghetto berichtet. Noch dazu das Tagebuch einer jungen jüdischen Frau! Eigentlich sollte sich das von selbst verbieten. Ich kann das Buch allerdings in Relation setzen zu anderen jüdischen Tagebüchern aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges – und ich kann versuchen, die Person Mary Berg zu verstehen.

Ich habe lange für dieses Buch gebraucht! Die Lektüre ist mir nicht immer leicht gefallen. Ich habe es als sehr dicht mit Emotionen empfunden, was gerade durch den Kontrast mit den eher beschreibenden Passagen intensiviert wurde. Es war ein ständiges Wechselbad der Gefühle, mit dem ich mich hier konfrontiert sah. Als solches war das manchmal hart an der Schmerzgrenze.

Ich finde vorab außerdem, dass das Buch sehr gut lektoriert und betreut wurde. Die diversen Vorworte der Herausgeber fand ich erhellend. Man merkte deutlich, wie sehr ihnen das Projekt am Herzen lag. Zuerst wurde das Buch relativ rasch nach Ende des Krieges veröffentlicht; damals allerdings nur in Amerika. Nun feiert es 75. Geburtstag, und erscheint auch hierzulande. Seltsamerweise in einem Schweizer Verlag, anstatt einem deutschen…! Wie schade, dass Mary Berg das nicht mehr miterlebt.

Es gibt schon einen deutlichen Unterschied zu – beispielsweise – Anne Frank. Anne war wesentlich jünger als damals Mary; und hatte sich sehr auf Zwischenmenschliches und moralische Reflexionen konzentriert. Sie war ein recht sonniges und heiteres Gemüt. Die unfreiwillige Autorin Mary Berg jedoch war schon im Teenager-Alter, was man deutlich merkt. Mary berichtet eher von dem alltäglichen Ghetto-Leben, von Kunst und Kultur, vom Lebenswillen der eingesperrten Juden. Und natürlich erzählt sie viel von ihren Freunden, und von Verwandtschaftsverhältnissen.

Mit den Tagebüchern von Victor Klemperer oder Ruth Klüger lässt sich Mary Berg nun nicht wirklich vergleichen. Klemperer war von vornherein wesentlich „literarischer“, Ruth Klüger auch. Und diese schreibt zudem viel im Rückblick. Ich würde sagen, Marys Sprache, Schreibweise und Reflexionsniveau liegen genau erwartungsgemäß bei dem Standard einer 15- bis 19jährigen jungen Frau.

Teils beschreibt sie, teils denkt sie aber auch nach. Da gibt es Abende mit Theater-Aufführungen, und diverse Verehrer hat Mary auch! Dann wieder schildert sie mit viel Empathie allerlei Maschen und Tricks, die sich die Leute einfallen lassen, um zu überleben. Sie verurteilt niemanden dabei. Allerdings hat sie harsche Kritik übrig für Polen, die sich gegen ihre jüdischen Landsleute gewendet haben!

Man mag Mary vorwerfen, dass sie „Glück hatte“ und privilegiert war, da ihre Mutter amerikanische Staatsbürgerin war und dies somit letztlich eine Ausreise ermöglichte. Dennoch, ich finde, dass Marys Verzweiflung deutlich spürbar ist. Sie erlebt ja alles hautnah mit, riecht sozusagen das Blut auf den Straßen, hört die Schreie und Schüsse. Und „sicher“ hat sie sich wahrlich nicht gefühlt! Die Armut zumindest hat alle gleich betroffen.

Die Einteilung in Kapitel und die Überschriften hierzu sind natürlich willkürlich, und von den Herausgebern vorgenommen. Man schreibt ein Tagebuch schließlich nicht „nach Themen“. Ab der Mitte des Buches merkt man auch, dass zwischen den Eintragungen längere Abstände liegen. Manchmal gibt Mary das unumwunden zu. Sie ist einfach zu sehr mit „Überleben“ beschäftigt, oder mit traurigem Grübeln. Doch immer wieder zwingt sie sich, weiterzuschreiben – bis hin zur Ankunft in Amerika.

Ich verleihe mit voller Überzeugung und allergößter Anteilnahme 5 Stern! Das Buch ist auf seine ganz eigene Art eine würdige Ergänzung des damaligen Zeitpanoramas. Allerdings kann man es meiner Ansicht nach kaum „in einem Rutsch“ durchlesen.