Falls Sie in diesem Jahr nur ein Buch lesen wollen - lesen Sie dieses.

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Immer wenn Luises Oma Selma von einem Okapi geträumt hatte, war am folgenden Tag jemand gestorben. Nachdem das drei Mal passiert war, leitete man in Luises Heimatdorf im Westerwald daraus ein Gesetz ab. Als Selma erneut ein Okapi im Traum erscheint, hofft jeder, dass ihn in den nächsten 24 Stunden der Tod nicht treffen wird. Im Dorf entfaltet sich emsige Aktivität, noch letzte, wichtige Sätze zu sprechen, ehe es dafür zu spät sein könnte. Es handelt sich um teils brisante Geständnisse, die mancher am nächsten Morgen lieber zurücknehmen möchte.

Die Icherzählerin Luise ist zu Beginn des Romans 10 Jahre alt und hat ein inniges Verhältnis zu Selma und zum Optiker, Selmas langjährigem, heimlichen Verehrer. Oma und Optiker bringen Luise und ihrem Freund Martin die wichtigen Dinge fürs Leben bei: Schwimmen, Schuhe binden, Radfahren, Lesen und die Uhrzeit ablesen. Luises Eltern sind stark mit sich selbst beschäftigt, der Vater macht gerade eine Psychoanalyse, die er zu seinem Lieblingsthema erkoren hat, Luises Mutter Astrid betreibt ein Blumengeschäft. Doch streng nach der Lebenserfahrung, dass nicht das am Gefährlichsten ist, das einem die größte Angst bereitet, stirbt nach diesem Traum eine Person, auf die keiner der Dorfbewohner gekommen wäre. Die Dinge sind anders, als sie scheinen, und wiederum anders, als die Leute behaupten. Rund 10 Jahre später richtet Luise sich nach heftiger Trauerphase mit dem ein, was sich zufällig ergibt, sie beginnt eine Ausbildung in der Buchhandlung des Ortes. Ein Zufall lässt Frederik Luises Weg kreuzen, einen jungen Deutschen, der in Japan in einem buddhistischen Kloster lebt. Anders als Luise lässt Frederik sich nicht vom Leben behandeln, sondern handelt so, wie es ihm richtig erscheint. Für das Dorf wirkt die Begegnung mit Frederik wie ein Katalysator, der längst fällige Veränderungen in Gang setzt. Nur Luise muss noch lernen, sich selbst auf den Weg zu machen und nicht länger darauf zu warten, ob die Welt an ihre Tür klopfen wird.

In Luises Dorf sind Gegenstände belebt, Kobolde hocken als Aufsitzer den Menschen im Nacken und ein ganzer Chor entmutigender innerer Stimmen hält den Optiker in der Spur. Als Kind konnte Luise noch nicht erkennen, wie glücklich sie Selma und den Optiker nur durch ihr Dasein gemacht hat. Ihr und Martin haben die beiden Senioren eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch bereitet, die für die Leser des Romans die Abwesenheit der Eltern umso deutlicher macht. Selma und der Optiker haben das Sprachgefühl der Kinder gefördert. Sprache kann die gewohnte Richtung von Gedanken ändern und so Veränderungen anstoßen. Beim Nachsinnen über Luises exzentrische Sicht auf die Welt muss man seine Einschätzung der Personen mehrfach neu justieren und kann sich beim Denken in eingefahrenen Bahnen ertappen. Neben den anrührenden Schicksalen hebt die originelle, bildhafte Sprache Mariana Lekys Roman aus der Masse an Kindheits- und Coming-of-Age-Geschichten heraus. Falls Sie in diesem Jahr nur ein Buch lesen wollen – lesen Sie dieses.

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Zitat
„Ich dachte, dass man Abenteuertauglichkeit womöglich nicht beurteilen kann, wenn man sich zu lange kennt, dass sie verlässlich nur von jemandem eingeschätzt werden kann, der zufällig durchs Unterholz gebrochen kommt. Ich dachte, während ich der Tür beim Geschlossenwerden zusah daran, dass Frederik gesagt hatte, er habe sich für diesen Weg entschieden, und ich dachte, dass ich mich noch nie für etwas entschieden hatte, dass mir alles immer eher widerfuhr, ich dachte, dass ich zu nichts wirklich Ja gesagt hatte, sondern immer nur nicht Nein. Ich dachte, dass man sich von aufgeplusterten Abschieden nicht ins Bockshorn jagen lassen darf, dass man ihnen sehr wohl von der Schippe springen kann, denn solange keiner stirbt, ist jeder Abschied verhandelbar.“ (S. 138)