Wenn Momo erwachsen wäre

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thoronris Avatar

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Ich bin noch immer sprachlos nach der Lektüre dieses Buches. Ich glaube, wenn man einen Text von Mariana Leky gelesen hat, einen Roman, in dem jeder Satz sorgfältig konstruiert ist und trotzdem zauberhaft simpel bleibt, kann man gar nicht in Worte fassen, was man empfindet, denn jedes Wort verblasst. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – muss ich euch von diesem Buch erzählen.

Ich habe dieses Buch gelesen, weil die Idee, dass nach einem Okapi-Traum jemand stirbt, so derart abstrus und anders ist, dass ich unwillkürlich neugierig geworden bin. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt und der gesamte erste Teil dreht sich nur um das Traum.Okapi und die Folgen, die das Wissen um den baldigen Tod hat. Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf irgendwann am Ende des 20. Jahrhunderts, die Menschen kennen sich, sind alle auf ihre Weise verschroben, doch eines eint sie: der Glaube an die prophetische Kraft von Selmas Traum. Selbst jene, die es vehement abstreiten, glauben daran.

Aus der Sicht der zehnjährigen Luise, Selmas Enkelin, geschrieben, erleben wir mit, wie die verschiedensten Charaktere mit der Angst vor dem Tod umgehen. Es ist ein faszinierendes Spektakel, das durch die simple Naivität, welche mit der Perspektive eines jungen Menschen einhergeht, eine erstaunliche Authentizität erhält. Leky berichtet, wie die Dorfbewohner viel von „immer“ und „niemals“ schreiben, ausführlicher muss sie nicht werden, jeder Leser versteht intuitiv, was gemeint ist. Genau darin liegt auch ihre Stärke: Sie verspürt nicht den Drang, uns die Details unter die Nase zu halten, uns auf dem Silbertablett die Erkenntnis zu präsentieren. Sie deutet an und der Rest wird gefüllt von den Erfahrungen, die der Leser selbst im Leben gemacht hat.

Dass am Ende jemand stirbt, ist nicht verwunderlich, doch geschockt war ich davon, wen es traf. Mein Herz tat tatsächlich weh. Es ist ein simpler Satz, den Leky für diesen Todesfall verwendet, und umso mächtiger hallt er wider. Auf einige der Personen hat dieser spezielle Tod eine nachhaltige Wirkung, auch das ist realistisch, so nebensächlich es anfangs auch erwähnt wird.

Lakonisch, beinahe neutral wird die Reise von Luise fortgesetzt. Um sie herum geht das Leben weiter seinen Gang, selbst dann, als eine Begegnung mit dem japanischen Mönch Frederik sie selbst völlig aus der Bahn wirft. Sie weiß, dass er ihre große Liebe sein wird und zeigt sich für wenige Augenblicke ungewöhnlich mutig, nur um sich dann doch dem gewohnten Gang des Lebens unterzuordnen. Nichts in diesem Roman scheint stärker zu sein als der gewohnte Gang des Lebens. In diesem Dorf verändert man sich nicht. Immerhin ist es auch Selmas Maxime, dass man gerade denn, wenn man Angst hat und das Morgen nicht kennt, genau das tut, was man immer tut. Gewohnheit gibt Halt.

Doch genauso ist Gewohnheit für großes Leid verantwortlich. Selbst dann, wenn die Gewohnheit darin besteht, ständig etwas Ungewöhnliches zu tun – wie beispielsweise immer neue Orte auf dem Globus zu besuchen -, kann diese Gewohnheit einem am Ende um einen kostbaren, nie nachzuholenden Moment bringen. Die Unfähigkeit, rechtzeitig mit seinen gewohnten Handlungen zu brechen, hat mir in diesem Buch gegen Ende hin erneut mein Herz gebrochen. Ebenso führt die Gewohnheit dazu, dass Luise nicht gegen ihre Verstocktheit ankämpft und nicht ihrer großen Liebe nachjagt. Es ist einfacher, in gewohnter Umgebung und mit gewohntem Alltag unglücklich zu sein, als für ein eventuelles Glück einen Sprung ins Ungewisse zu wagen.

Die Dorfmenschen sind ehrliche Leute. Sie sind einfach, teilweise kann man sie tatsächlich schlicht nennen, doch gerade darin besteht ihre Stärke. Sie sehen die Welt, wie sie ist, sie sehen die Welt, wie ihr eigenes Leben sie geformt hat. Und egal, wie groß die Macke des Nachbarn ist, es ist und bleibt der Nachbar und man sorgt und kümmert sich. Selbst, wenn man mit einer Flinte bedroht wird. Jeder ist seltsam und anders, aber zusammen ergeben alle ein gewohntes Bild, das es zu erhalten gibt.

Während des Lesens dieses Romans fühlte ich mich mehr und mehr an ein Buch aus meiner Kindheit erinnert. Ich wusste, das Gefühl, das mir dieses Buch vermittelt, war bekannt. Und am Ende wusste ich, woran ich mich erinnert fühlte: Michael Endes „Momo“. Die Geschichte von Momo ist ein wenig stringenter erzählt, immerhin ist es eine Kindergeschichte, doch das Prinzip bleibt dasselbe: Wir erhalten Einblicke in Menschen, präsentiert mit einem sehr simplen, selbstverständlichen Tonfall. So ist es eben, sagen diese beiden Bücher, und weil es eben so ist, ist es gut. Wenn Momo erwachsen wäre, wäre sie wohl Selma.


FAZIT:

Der Roman „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky lässt sich schwer in Worte fassen. Die außergewöhnliche Sprache, die gerade in ihrer Schlichtheit so intensiv wirkt, ermöglicht uns einen intimen Blick in das Leben einiger weniger Dorfmenschen, wie selbst das empathischste Erzählen, die größte Anhäufung von Adjektiven es nicht gekonnt hätte. Das Schicksal der Protagonistin Luise, ihrer Großmutter Selma und aller anderer Dorfbewohner wird schlagartig interessant, es ist unmöglich, der Erzählerin nicht zuzuhören, gerade weil alles in seiner Andersartigkeit doch so normal und authentisch wirkt. Ich kann für dieses Buch unumwunden eine wärmste Kaufempfehlung aussprechen.