Der Wunsch nach Freiheit

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„Dabei werden wir mit den Jahren immer besser: Wir werden jung geboren und reifen mit den Jahren zur Frau. Das Alter macht uns nur wegen der Männer Angst. Erst wenn wir alle ein eigenes, in jeglicher Hinsicht unabhängiges Leben führen, sind wir geschützt vor der Angst: vor dem Alter, vor dem Tod, verstehst du? Es sind die Männer, die das Gleichgewicht stören, das die Frauen in die Welt bringen.“

In Rom vor gut 90 Jahren: In einem Konvikt studieren die acht jungen Frauen Emanuela, Sylvia, Milly, Vinca, Valentina, Xenia, Anna und Augusta. Sie leben nach den strengen Regeln des Klosters, genießen dort aber auch zum ersten Mal Freiheiten, die sie zu Hause nicht hatten. Sie erfahren sich als selbstständige Menschen, die allein in Rom leben und ausgehen dürfen und die nach dem Studium gut ausgebildet in einen Beruf starten können. Auch wenn die Frauen aus sehr unterschiedlichen Gründen am Konvikt studieren und aus sehr unterschiedlichen Familien kommen, teilen sie eine gemeinsame Gegenwart.

Ihnen gemeinsam ist, dass sie (wenn auch in differierendem Maße) nach Freiheit streben. Keine wagt auf das große Paket der Freiheiten zu hoffen, doch im Kleinen wünscht sich jede, auch nach dem Studium ein winziges Maß an Selbstbestimmtheit wahren zu können.

Sie sind eigentlich ganz normale junge Menschen, die teils egoistische Gedanken und Wünsche haben, sich ausprobieren und selbstverwirklichen möchten. Aber da sie Frauen sind, ist ihnen schon dieses Bestreben untersagt. Jede gesellschaftliche Verfehlung, die nicht erfolgreich totgeschwiegen wird, wird sanktioniert.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau für ihre Lebensgestaltung? Sie kann heiraten. Und sie sollte das auch tun - denn die einzige Alternative ist das Leben im Kloster mit all seinen Beschränkungen und eigenen Regeln. Auch gut ausgebildet wird sie außerhalb des Klosters und ohne reichen Mann oder Familie immer nur einen schlecht bezahlten Assistenz- oder Dienstleistungsjob bekommen.

Am Ende scheint keine Frau in der Lage selbstbestimmt leben zu dürfen, sondern wird von einem Mann und der Gesellschaft ausgebremst.

Dieses Buch ist eine zart erzählte Geschichte. Die Protagonistinnen sind keine Draufgängerinnen oder Hetzerinnen. Alles, was sie wünschen und wagen, ist sehr menschlich und normal. Dennoch ist das Buch bei Erscheinen auf dem Index gelandet. Denn Frauen haben nicht einmal das Recht darauf, sich nach denselben Freiheiten wie ein Mann zu sehnen. Das Buch enthält keine direkten Forderungen nach Gleichberechtigung, es ruft die Frauen nicht zur Emanzipation oder zum „Ungehorsam“ auf. Es beschreibt lediglich ihre innersten Wünsche und Gedanken.

„Was vor uns liegt“ hat eine gewaltige Kraft und ist ganz nebenbei eine zauberhaft erzählte Geschichte. De Céspedes trifft wieder einen ganz besonderen Ton und verschafft schöne und kluge Lesestunden.