Das fiktionalisierte Leben der Hannah Arendt

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Zunächst: Dem Verlag ist meiner Meinung nach mit dem Cover und der Gestaltung ein wahrer Kunstgriff gelungen: Da gibt es diese Spiegelung des Titels, die damit wiederum den Inhalt des Titels darstellt. Da gibt es die beiden Vögel, die wie Engelchen und Teufelchen wirken. Und da gibt es auch diese Vögelchen, die an den Sequenzen des Romans auftauchen. Grandios gemacht!

Zum Kernstück, dem Roman selbst: Der Leser trifft auf Hannah Arendt im Sommer 1975, als sie gerade mit dem Zug in das Schweizer Dorf Tegna unterwegs ist, um dort Urlaub zu machen. In den insgesamt 27 Kapiteln reisen wir nun mit Hannah Arendt durch Raum und Zeit und begleiten sie an ihren wichtigsten Stationen, alles in der Zeit zwischen Mai 1941 und August 1975. Diese Achronologie hindert aber keineswegs den Lesefluss, denn die Autorin Hildegard E. Keller vermag es, diese einzelnen Stationen kunstvoll miteinander zu verbinden. So treffen wir beispielsweise immer wieder auf Weggefährten Arendts, sei es sozusagen real oder in Gesprächen. Auch wird das Wesen der Hannah Arendt, ihre kritischen und unabhängigen Überlegungen, jederzeit deutlich. Und ebenso ihre bekannte Reportage „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ ist durchweg Thema. An keiner Stelle stellte sich jedoch bei mir das Gefühl ein, mit der Handlung nicht mehr hinterherzukommen, gar die Orientierung verloren zu haben. Dies ist mit dem erzählerischen Talent der Autorin zu begründen, denn, obwohl es ihr erster Roman ist, ist sie doch literarisch versiert, lehrte an verschiedenen Universitäten, war jahrelang Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens.
Zu bedenken ist natürlich, dass es sich hier um einen Roman handelt, dass die Autorin das Leben der Hannah Arendt fiktionalisiert oder, wie Keller es selbst beschrieb, „mit viel künstlerischer Freiheit aus dem Gerüst ihrer Biografie herausgelöst [hat]“. Dies ist auch zu bedenken, wenn man die vielen eingestreuten Zitate liest, die eingerückt dargestellt sind. Im Nachwort ist daher zu lesen, dass Aussagen und Passagen „aus Briefwechseln und Werken paraphrasiert“, „Paraphrasen aus anderen Kontexten enthalten, fiktionalisiert oder fiktiv sind“. Das schmälert aber keineswegs den Lesegenuss, für mich verstärkt es ihn sogar.