Selbst denken!

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fräuleinsalander Avatar

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Als Hannah Arendt 1975 das letze Mal im Tessin Urlaub macht, blickt sie auf ihr Leben zurück. Der Fokus bei diesem Rückblick liegt zum Beispiel auf dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, auf Freundschaften, die nicht immer gewisse Konflikte überstanden haben und auf ihrem Leben während der Flucht in die USA.

Im Roman wechseln die Kapitel zwischen Hannah Arendt’s Eindrücken aus dem Tessin-Urlaub und Ereignissen aus der Vergangenheit. Der Roman wird aus der Sicht von Hannah Arendt erzählt und der Erzählstil erinnert an einen inneren Monolog. In einem Nachwort weist die Autorin ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei „Was wir scheinen“ um eine fiktionalisierte Biographie handelt. Obwohl dem Text Gedichte, Briefe und Notizen von Hannah Arendt zugrunde liegen, hat die Autorin diese ohne Anspruch auf historische Genauigkeit in die Erzählung eingewoben. Es geht nicht notwendigerweise um eine genaue Nacherzählung, sondern meiner Meinung nach stehen die Erläuterung von Gedanken und Ansichten und das Erzeugen einer gewissen Atmosphäre im Vordergrund.

Die Gedichte, Berichte und Ausschnitte aus Briefen, die in den Text eingewoben sind, vermitteln einen Eindruck davon, dass nicht nur Schreiben, sondern auch lesen sehr wichtig waren für Hannah Arendt. Sie kennt zum Beispiel viele Gedichte auswendig, die sie bei Gelegenheit rezitiert und hat auch immer ein paar Papierschnipsel mit besonderen Gedichten in ihrer Jackentasche und sie genießt es, lange persönliche Briefe zu lesen. Der Gedanke, dass ein Brief oder ein Gedicht etwas ist, dass man für sich alleine genussvoll aufnimmt, hat mir sehr gut gefallen.

Da immer wieder philosophische und grundsätzliche Fragen aufgeworfen und diskutiert werden, ist dieses Buch keine leichte Kost. Dazu kommt außerdem, dass besonders am Anfang des Romans viele Zeitgenossen und Freunde von Hannah Arendt vorkommen, die aber nur mit ihrem Vornamen und Kosenamen erwähnt werden. Wenn man diese Personen nicht kennt, fühlt man sich beim Lesen vielleicht anfangs ein bisschen verloren. Ich würde jedoch sagen, dass man der Geschichte trotzdem folgen kann, auch ohne die Hintergründe notwendigerweise zu recherchieren. Insgesamt liest sich der Roman gut und er ist auf seine Art auch spannend.

Ich finde, dieser Roman ist ein guter Einstig, um mehr über Arendt und ihre Ansichten zu erfahren, denn sie war auf jeden Fall eine sehr interessante Frau, die viele bekannte Menschen persönlich oder aus Briefkontakten kannte. Interessant ist auch, dass die meisten ihrer Freunde Männer waren und es ihr anscheinend auch im Alter noch gelang, Freundschaften mit den unterschiedlichsten Personen zu schließen. Unterschiedliche Meinungen zu Themen, die ihr wichtig waren, sind hierbei kein Hinderungsgrund.

Die Hannah Arendt in „Was wir scheinen“ rät dazu, immer selbst zu denken, anstatt der Herde zu folgen, auch wenn das für einen selbst unbequem werden kann. Sie hat keine Angst davor, mit ihrer Meinung anzuecken. Gerade in der aktuellen Zeit von Fake-News und Verschwörungstheorien finde ich diese Ansicht wichtiger denn je.

Was mich bei dem Rückblick auf Arendt’s Leben gewundert hat, war dass die fiktive Hannah Arendt wenig über ihr Privatleben nachgedacht hat, also zum Beispiel über ihre Ehe, über das Leben, das sie in Deutschland zurücklassen musste, über ihr Verhältnis zu Amerika und ihre Position als Frau in der akademischen Männerwelt. Stattdessen stehen Gespräche mit interessanten Persönlichkeiten, mit Studenten und schwierig gewordene Freundschaften im Vordergrund. Allerdings muss man auch sagen, dass eine Person mit einem so bewegten Leben Stoff für mehr als einen Roman bietet und dass eine Erweiterung der Themen den Rahmen des sowieso schon umfangreichen Romans gesprengt hätte. Dieser Roman hat definitiv mein Interesse an der Person Hannah Arendt und an ihren Werken geweckt.