Die Sterne sehen aus wie Einschusslöcher

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galaxaura Avatar

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„We burn daylight“ von Bret Anthony Johnston, erschienen 2025 bei C.H. Beck, hat mir durchweg den Atem abgeschnürt. Es ist ein eindrückliches, beklemmendes Werk, das tiefe Einblicke in die Struktur von Sekten gibt, ohne dabei auch nur ein einziges gängiges Klischee zu benutzen. Johnston schreibt tiefgehend und mit viel Zeit, er ist ein Meister der Atmosphäre und der genauen Charakterzeichnung und: Der Andeutung. Denn mit diesem Mittel hält er die Lesenden durchweg in einer leisen Panik, ohne diese jemals wirklich zu lösen.

„We burn daylight“ ist kein Buch über David Koresh, wie es dem Autor wichtig ist zu betonen im Nachwort, dennoch beruht die Handlung deutlich ersichtlich auf den Ereignissen 1993 am Mount Carmel in Waco, Texas. Die besondere Qualität des Buches ist jedoch, dass er sich mit fiktiven Menschen befasst, die zu keinem Zeitpunkt eine Überzeugung haben, sondern einfach nur in das Ereignis mit hineingerissen werden.

Johnston teilt die Handlung in Abschnitte, die er den Pferden der Offenbarung der Bibel zuordnet, was sehr viel Sinn ergibt. Er erzeugt von Anfang an durchweg eine hochbedrohliche Atmosphäre, ohne dass etwas Konkretes passiert. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, weil ich ständig dachte, gleich explodiert es, gleich passiert etwas greifbar Schlimmes. Nach einem kurzen Prolog, den die Lesenden erst am Ende des Buches angelangt einordnen können, geht es in die Haupthandlung, die eine sehr clever konstruierte Mischung aus Coming of Age, Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und historischem Rückblick formt. „Es ist die Zeit des Leidens gekommen, das Warten ist vorbei“ – das setzt den Pace und das Thema für das Buch und wurde von mir unterbewusst sehr abgespeichert.

Wir befinden uns also im Jahr 1993 und die beiden Hauptcharaktere Roy und Jaye, zwei Teenager, die zufällig in Waco aufeinandertreffen, waren mir direkt sympathisch, sie sind beide etwas verschroben, aber auf die gute Art, ich liebe solche Charaktere. Sie sind jung und formbar, sollte man denken, sind aber zum Glück viel zu sperrig, um leicht geformt werden zu können. Wir befinden uns in Waco, Texas und ohne dass ich jemals dort gewesen wäre, fühlt sich der Ort öde und staubig an. Und während sich im Hintergrund des Geschehens eine immer stärkere und fanatischere Religionsgemeinschaft formt, finden im Vordergrund zwei sehr besondere Menschen Halt aneinander, der jedoch durchweg bedroht ist.

Ich mochte die formale Grundidee total, das ist richtig gut gemacht, die kurzen Erinnerungsausschnitte aus einem Podcast, die vielen Stimmen, die aus der Vergangenheit erzählten und durchweg das Gefühl geben, hier ist eine Katastrophe passiert, für die sich keiner zuständig fühlen möchte, gepaart mit den wechselnden Erzählkapitelperspektiven von Roy und Jaye. Durch das langsame Entblättern des Geschehens und die Multiperspektive wird klar, warum Sekten so gut funktionieren, wie es eine Schüchternheit des Außen gibt, genau hinzusehen und eigentlich alle immer ganz froh sind, keinen Handlungsbedarf zu sehen, weil es doch nur ein bisschen verrückt und gar nicht so schlimm ist, wie auch Menschen sukzessive von Lamb, dem Führer der Religionsgemeinschaft, infiltriert werden, indem er seine Message nur in kleinen Stücken weitergibt und so gar keine Leaderpersönlichkeit ist auf der Oberfläche, selbst fast eher wie ein Opfer wirkt, nahezu hilfsbedürftig, aber dadurch die Menschen und vor allem die Frauen anzieht. Dabei schafft es Johnston sehr gut, uns durchweg die Armseligkeit und Verwahrlosung, den subtilen und teils auch gar nicht subtilen Missbrauch deutlich zu machen. Mir hat das richtig körperliche Schmerzen bereitet beim Lesen und auch sehr viel Ekel. Es ist einfach total gut beobachtet und gebaut. Verrückt, dass Menschen, die in das System geraten, diesen Ekel nicht mehr empfinden.

Beide Familien der Teenager haben ein internes Trauma, über das nicht wirklich gesprochen wird. Das macht sie angreifbar und abgelenkt. Immer wieder denke ich übrigens, Amerika, ein Land, das so traumatisiert ist als Nation. Man sollte ja denken, das wären eher wir Deutschen, aber ich sehe es in den U.S.A. viel stärker.
Traumatisiert ist natürlich auch Lamb. Die Beschreibung seiner Kindheit ist schlimm. Der Weg, den er zu seiner persönlichen Heilung beschreitet, ist dennoch schlimmer. Ich frage mich immer wieder, wie man es schafft, als Eltern so grausam zu einem Kind zu sein, einem Schutzbefohlenen, was ist das in Menschen? Leider psychologisch typisch, sich dann selbst zu ermächtigen, indem man Macht über andere ausübt und dem Leid rückwirkend einen Sinn gibt, indem man es zur Bestimmung erklärt. Auch das ist gut gezeichnet. Perry nennt sich „Lamb“ – und ich ahnte sofort, er ist kein Opferlamm Gottes, sondern ein Wolf, der sich im Schafspelz tarnt.

Zwischendurch immer wieder unglaublich zerstörerische und vorausdeutende Poesie: „Die Sterne sehen aus wie Einschusslöcher.“ Generell schreibt Johnston auf sprachlich unglaublich hohem Niveau und lässt sich die Schönheit der Sprache immer wieder über die Gefährlichkeit der Ereignisse legen. In quälender Langsamkeit wird hier gezeigt, was Ideologie gefährlich macht bis zu einem vollkommen absurd wirkenden Showdown, den Johnston meisterhaft parallel führt, Atmosphäre und Dynamik vom innen und außen so gegensätzlich, der Staat wirkt lost und unvorbereitet, dadurch die komplette Eskalation. So gut gemacht, die Perspektive von Jaye für innen, Perspektive von Roy für außen, klassische antike Mauerschau, Machtlosigkeit im Nicht-Handeln drinnen wie draußen.

Das Ende des Buches formt einen weiteren genialen Coup mit einem Kreisschluss, der alles bisher gelesene noch einmal neu wirken lässt. Mich hat dieser Roman unglaublich berührt und gepackt, ich hätte nie damit gerechnet, aber das ist wirklich ein Hammer Buch, ich könnte einen eigenen Roman über diesen Roman schreiben. Johnston erzählt die Sekte und die Infiltration, ohne sie zu erzählen, ohne je konkret zu werden. Für mich ein Meisterwerk, weil er genau damit die Struktur aufblättert – aber auch zeigt, wie sehr Gesellschaft solche Strukturen mitträgt durch aktives Unter- und Übertreiben, durch keine wirkliche intensive Auseinandersetzung. Ich bin geflashed von diesem Buch.