Unfassbar bedrückend, weil unfassbar glaubwürdig

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laberlili Avatar

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Ich finde den Klappentext ein wenig unglücklich, da der zweite Absatz dem Buchende zum Einen bereits ein wenig vorgreift und es zum Anderen so klingen lässt, als konzentriere sich der Roman stark auf die Mutter des entführten Kindes, was absolut nicht der Fall ist. Tatsächlich lernt man Mieke eher durch Hörensagen kennen, wenn man es überhaupt „kennenlernen“ nennen kann.
Stattdessen konzentriert sich „Wehrlos“ sehr auf die vierjährige Nele und auch das nur einige Jahre ältere Mädchen, das sie vom Spielplatz gelockt hat – und aufgrund der zahlreichen Szenenwechsel ist den Lesenden bereits von Anfang an bewusst, dass hinter der dieser Entführung ein über die Landesgrenzen hinaus agierendes Verbrechersyndikat steckt, deren Geschäft aus Menschenhandel besteht, wobei Menschen in diesem Fall Kinder bedeutet, die selten das Grundschulalter bereits erreicht haben. Nun weiß ich von einigen anderen Leser*innen, dass sie a) rein gar nichts lesen wollen, in dem Kinder zu Opfern werden, und aufgrund des ersten Absatzes der Beschreibung zu „Wehrlos“ ohnehin die Finger lassen werden oder b) ein wenig mit Romanen hadern, in denen Kindern Schlimmes widerfährt, aber mitunter dann doch zu diesen greifen, weil sie meinen, es würde bestimmt nicht ganz so übel werden. Menschen, die sich der b)-Kategorie zugehörig fühlen: Lasst die Finger von diesem Buch! Es ist wirklich übel, und zwar durchgängig.
Das Einzige, wovor die Geschichte zurückschreckt, ist eine deutliche Ausführung, was mit den Kindern geschieht, nachdem sie den Käufern übergeben wurden; abgesehen davon, dass im Verlauf einmal erwähnt wird, dass später manchmal doch noch „echte“ Geburtsurkunden fingiert werden müssen, wird es hier dabei belassen zu sagen, dass das Gros der Kinder nie wieder auftauchen wird, nie wieder ein alltägliches Leben führen wird… und ich denke, das impliziert bereits, dass es hier eher nicht um fingierte Adoptionen oder Ähnliches geht.

„Wehrlos“ wechselt ständig die Szenerie; mal liest man von Miekes Nachbarin, welche Mieke eher argwöhnisch betrachtet, mal vom Mieter von Miekes Einliegerwohnung, der offensichtlich in sie verliebt ist; aber sehr häufig schwenkt die Geschichte zum „Erziehungsheim im Wald“, das eigentlich nur als Zwischenstation dient, um entführte Kinder vor deren Übergabe zu brechen und für (nicht auf) den jeweiligen Käufer vorzubereiten, und welches dem an Neles Entführung beteiligten Mädchen ein sehr trauriges Zuhause ist. Ebenso viel wie von der Arbeit Bens und seiner Kollegen, oder gar noch mehr, liest man übrigens von den beteiligten Täter*innen, die hier auch mal in der Ich-Form erzählen, was manchmal bedrückend, aber häufig sehr erschreckend ist – diese Einlassungen sind kursiv gesetzt und da muss man sich selbst erschließen, wer überhaupt nun spricht, was zuweilen doch ein wenig anstrengend war: nicht nur wegen dem, was sie teils von sich gegeben haben, sondern auch, weil zumindest ich schwankte: „Ist das nun der Kerl? Der andere? Die eine Frau? Ist das überhaupt jemand der Kidnapper? Erzählt da nu die ganze Zeit dieselbe Person oder sind die das abwechselnd alle? …“

Ich habe den Roman im Verlauf einer längeren Zugfahrt zu lesen begonnen und war, um ehrlich zu sein, ganz froh, dass da noch helllichter Tag war und um mich herum recht reger Trubel herrschte. Abends im Dunkeln, im Leisen, daheim unter eine Decke gekuschelt, hätte mich die Geschichte definitiv zu stark belastet: ich habe „Wehrlos“ bis zu meinem Zielbahnhof auch nicht komplett zu lesen geschafft, sondern das letzte Viertel erst am nächsten Vormittag gelesen, um mich nicht unmittelbar vor dem Einschlafen gedanklich völlig darin zu verlieren.
Den Teil mit der „nahestehenden Person“, die von Mieke provoziert worden war, fand ich letztlich allerdings überflüssig: diese Geschichtenkonstruktion hatte an sich nichts mit der Haupthandlung zu tun und der Plot hätte auch ohne diese Verbindung problemlos funktioniert; generell fand ich das Erschreckendste aber, wie realistisch dieses Buch nun war und wie sehr die Darstellung hier Eltern vermutlich auch panisch werden lassen kann, dass man besser niemandem trauen sollte. Auch die Mahnung, dass man in den sozialen Medien besser zurückhaltend sein sollte, grad in Bezug auf persönliche Infos über die eigenen Kinder, ist hier sehr deutlich; was Delphine de Vigan in ihrem Werk „Die Kinder sind Könige“ vergleichsweise subtil und leise ansprach, wird dem Publikum von Nora Benrath als knallharter Fakt um die Ohren gehauen oder, im literarischen Kontext gesprochen, von den Bösen in dieser Geschichte, die keinen Hehl daraus machen, wie einfach ständig breitgetretene Tagesabläufe ihnen ihre Arbeit machen, oder wie unkompliziert sich „Wunschware“ finden lässt, wenn z.B. Eltern ständig Fotos ihrer Kinder in zig Posen veröffentlichen und noch dazu mit den entsprechenden Hashtags versehen. Zudem wiederholt einer der Täter gleich von Anfang an häufig, dass nur allein ihre „Organisation“ so verdeckt und so verzweigt operiert, dass sie einer Hydra gleiche und es keinen Unterschied mache, wenn sozusagen ein Team abgeschlagen werden würde, was noch weiter zur bedrückenden Atmosphäre beitrug: Wer „Wehrlos“ liest, sieht sich also gleich mit der Tatsache konfrontiert, dass selbst wenn die Geschichte noch eine gute Wendung für Nele nehmen sollte, irgendwo anders im selben Moment womöglich grad ein weiteres Kind bestellt, ein anderes entführt… wird, und es im großen Ganzen betrachtet auf keinen Fall ein Happy End geben wird.

Mir hat „Wehrlos“ nun sehr gut gefallen; klar, die Geschichte an sich war alles andere als schön; aber der Roman spricht eben ein wichtiges Thema an und ist absolut realistisch – auch wenn einen die steten Szenenwechsel, noch dazu die Einlassung der unbenannten Täterfigur(en?), definitiv konfus machen können, aber mir hat es andererseits gefallen, dass diese rasant erfolgenden Wechsel zusätzlich deutlich machten, wie sehr es wichtig ist, dass bei Entführungsfällen keine Zeit verloren wird.
Für mich ist „Wehrlos“ jetzt schon ein Thriller-Highlight dieses Jahres, aber wie eingangs gesagt: Man sollte besser im Vorfeld wissen, worauf man sich hier mit dem Lesen einlässt. Es gibt düstere Thriller – und Thriller wie „Wehrlos“, die einfach nur stockfinster sind.