Tolles Buch, dessen Ende mir nicht gefallen hat.

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buecher.berge Avatar

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Dieo führt ein augenscheinlich gutes und bürgerliches Leben. Mit ihrem Mann Simon und ihren drei Kindern lebt die angehende Mitte 30-jährige Psychoanalytikerin im Frankfurter Nordend. In ihren regelmäßigen eigenen Therapiesitzungen redet sie mit ihrem Therapeuten hauptsächlich über ihre exzentrische, kontrollsüchtige und alles besser wissende Mutter sowie ihre Überforderung, Kindererziehung, Haushalt und die eigene berufliche Karriere unter einen Hut zu bringen, während Simon sich ganz und gar auf seine Karriere in der Krypto-Finanzwelt konzentriert. Dieos jüngere Schwester Zazie dagegen lebt ein ganz unterschiedliches Leben in Offenbach: Die junge Frau Ende 20 hat gerade ihre Doktorarbeit mit Bravour bestanden, arbeitet in einem Jugendzentrum und ist vor allem eins: wütend. Wütend auf den Rassismus und Sexismus, der ihr als schwarzer Frau nahezu allgegenwärtig widerfährt. Systemisch, alltäglich, in kleinen und in großen Gesten. Eine Wut, ungezügelt von Jugend und den Geschehnissen der Welt, die sich immer neue Bahnen sucht. Hintergeht sie ihre Identität und das Empowerment anderer People of Color, weil sie Max datet, einen weißen jungen Mann? Wie kann ihre Schwester Dieo ihr Schwarzsein derart leugnen, um in ihr weißes gehobenes Mittelschicht-Umfeld zu passen? Ist Schwager Simon, weiß und als Teil eines Krypto-Start-Ups nicht Ausgeburt eben jener kapitalistischen Gesellschaft, die mitverantwortlich ist für rassistische und sexistische Strukturen? Dieo wiederum ist ihre idealistische kleine Schwester zu viel. Auch, weil sie sie mit ihrer eigenen unangenehmen Wahrheit konfrontiert. Während Zazie regen Kontakt zum senegalesischen Teil der Familie pflegt, weigert sich Dieo schon ihr ganzes Leben lang, das Geburtsland ihres Vaters zu besuchen und ihre dort lebende Familie kennenzulernen. Während Zazie mit ihrer Wut um sich tritt, zieht Dieo es vor, sich mit den Themen, die als schwarze Frau auch sie betreffen, nicht mehr als zwingend nötig zu befassen. Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Als ihr Vater überraschend stirbt, droht das fragile Familiengefüge aus dem Gleichgewicht zu geraten.

»Weiße Wolken« ist ein feinfühliger Familienroman über zwei Schwestern, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Sorgen und Wünschen. Entzweit durch ihre Weltanschauungen, verbunden durch ihre Liebe, ihre familiären Wurzeln und ihre Herkunft. Begleitet von einem frischen, modernen Schreibstil tauchen wir ein in die jeweilige Gedankenwelt von Zazie, Dieo und immer wieder auch Simon. Erleben die unterschiedliche Perspektiven, die das Miteinander nicht immer leichter machen. Obwohl im Roman vielschichtige Themen angesprochen werden wie die Aufteilung von Care Arbeit in einer heterosexuellen Beziehung, White Privilege und Male Gaze steht im Zentrum doch das Leben und Erleben schwarzer Frauen, die Frage nach Identität und Herkunft und der Vereinbarkeit verschiedener Lebensentwürfe. Es ist eine Art Streitgespräch, ein Abwägen von Positionen und Perspektiven, die einen differenzierten Einblick in verschiedene Wahrnehmungen ermöglichen. Immer feinfühlig, nie verletzend. Es ist ein Gegenüberstellen von Möglichkeiten, kein Vergleich, kein Besser oder Schlechter, sondern ein nebeneinander. Die Frage danach, welchen Preis man bereit ist zu zahlen, um in eine Welt zu passen, die einen aufgrund von Geschlecht und Hautfarbe diskriminiert. Die Frage danach, was jeder der beiden wichtig ist im Leben und welche Kompromisse man nicht bereit sein sollte, einzugehen. Ein Verständnis davon, dass diese Grenze individuell ist. Eine Familiengeschichte, die zeigt, wie komplex, kompliziert und fragil Familiengefüge sein können und dass nicht alles so sein muss, wie es auf den ersten Blick scheint. Über den Großteil des Buches hinweg habe ich dieses Nebeneinander, diese Differenziertheit sehr genossen und wertgeschätzt. Leider hat mich das Ende nicht auf gleiche Weise überzeugen können. Ich habe lange mit mit gehadert und hin und her überlegt, inwiefern sich dieses Ende auf mein Gesamtgefühl auswirkt. Ich glaube, dass es für mich leider einen Teil der Stärke des Buchs genommen hat. Das Ende war mir zu versöhnlich, zu klassisch, zu gut und ein Bruch in der vorherigen Akzeptanz verschiedener Lebensentwürfe, die den Roman zu Beginn so wunderbar für mich gemacht hat. Aber dies ist vielleicht nur mein Empfinden, geprägt von meiner Weltanschauung und sollte euch keinesfalls davon abhalten, Zazie und Dieo selbst kennenzulernen.