Tiefe Einsichten

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alasca Avatar

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Am Anfang des Romans steht ein klassisches Drama aus Untreue und Verrat. Puchner nimmt sich viel Zeit für dessen Vorgeschichte und die Entwicklung seiner Charaktere Cece, Charlie und Garrett. Wir folgen den Figuren von 2004 an etwa 50 Jahre lang, also über unsere Gegenwart hinaus in die nahe Zukunft.

Bemerkenswert fand ich, dass Puchner die dramatischen Schlüsselereignisse überspringt und jeweils erst bei deren Konsequenzen wieder einsetzt - ein Kunstgriff, mit dem er die Romantikfalle souverän vermeidet. Zudem hat der Roman keinen klassischen Spannungsbogen zwischen Anfang und Ende. Stattdessen verläuft die Geschichte als eine Reihe von Kulminationspunkten, so, wie es im Leben eben ist: Nach dem Drama ist vor dem Drama.

Ihr weiteres Leben lang wird sich vor allem Cece fragen: Was, wenn sie doch Charlie geheiratet hätte und nicht Garrett? Wären dann alle glücklicher gewesen? Denn nicht nur Charlie erholt sich nie wieder von Ceces Entscheidung, sie hängt auch dem „glücklichen“ Paar nach. Auch für Lana, Ceces Tochter und Jasper, Charlies Sohn, die Zeugen der emotionalen Verstrickungen ihrer Eltern sind, werden diese Erfahrungen prägend sein
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Puchner kratzt in seinem Roman nicht nur am Primat der romantischen Beziehung, sondern auch am amerikanischsten aller Leitbilder und Glaubenssätze, nämlich dem Streben nach Glück. So gelangt Ceces Tochter zu der Überzeugung, „dass ihre Mutter nicht am Unglücklichsein litt, sondern an dessen Gegenteil, […] an einer Vorstellung von Glück, das es nicht gab.“ Kann nur eine romantische Beziehung glücklich machen? Sind nicht auch Freundschaften eine Art von Liebe? „Es gab so viele verschieden Arten von Liebe; warum musste sich ausgerechnet die romantische Variante immer in den Vordergrund drängen?“ Wir begleiten nicht nur die Ehe von Garrett und Cece, sondern auch die Beziehung von Garrett und Charlie, die belastet ist von unausgesprochenem Groll, Unaufrichtigkeit und Konkurrenzdenken. Selten wird in einem Roman Männerfreundschaft derart zum Thema gemacht – Puchner gelingt es, deren typische Rituale und emotionale Sprachlosigkeit zu anrührenden Szenen zu formen.

Der Roman spielt in Montana, in einem fiktiven Ort am See, in dem sich die schneebedeckten Berge des Glacier Nationalparks spiegeln. Puchners Landschaftsschilderungen haben die bildhafte Qualität einer Naturdoku. Man leidet mit, wenn im letzten Drittel des Romans das Setting immer dystopischer und die gesamte Zukunft fraglich wird. Einer der eindrücklichsten Schauplätze des Romans ist das elende Camp einer Sekte, die sich die freiwillige Auslöschung der Menschheit auf die Fahnen geschrieben hat. In Puchners Szenario führt der Klimawandel im gesamten Westen der USA zur Feuerkatastrophe und bedroht am Ende sogar den geografischen Nukleus dieser Erzählung und den emotionalen Anker der Protagonisten: Charlies Haus am See.

Freundinnen handlungsgetriebener Plots seien gewarnt: Erst ab dem zweiten Drittel nimmt der Roman richtig Fahrt auf und reißt einen mit, dann aber unwiderstehlich. Bei aller Tragik gibt es viel Comic Relief, etwa die missglückte Hochzeitsfeier, bei der die Hälfte der Gäste durch eine Magen-Darm-Infektion ausfällt, oder die Autorenlesung in Ceces Buchladen, die aufgrund einer versehentlich genommenen Schlaftablette eine katastrophale Wendung nimmt. Auch die pointierten und oft witzigen Dialoge machen Spaß. Vor allem aber hat mich die philosophische Tiefe von Puchners Einsichten über Liebe, Ehe und Freundschaft beeindruckt. Auf nahezu jeder Seite finden sich kluge Sätze und Betrachtungen, die man sich an die Wand schreiben möchte. Ich habe den Roman mit großem Gewinn gelesen.