Verona, Armenviertel und ein prämiertes Gedicht

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heike lohr Avatar

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"Weit weg von Verona" ist kein neu geschriebenes Werk (Ersterscheinung 1971), sondern ein neu übersetztes und neu entdecktes Stück Erzählkunst. Jane Gardams Roman, vielleicht ein Jugendroman, doch vor allem für Erwachsene und Eltern mit Kindern in der Pubertät geeignet, beweist eine Art von zeitloser Moderne, die immer die Herzen der Leserschaft trifft. Erzählerin dieser Geschichte ist die junge Jessica Vye, welche von sich selber sagt: 1. Ich bin nicht normal. 2. Ich bin nicht sehr beliebt. 3. Ich weiß immer, was Leute denken. 4. Ich kann entsetzlich schlecht die Klappe halten, wenn mir etwas durch den Kopf geht (...). 5. Ich sage unweigerlich immer und überall die Wahrheit. Diese Selbstaussagen haben mich an diesem Buch unweigerlich angezogen und richten den Fokus darauf, ob die Selbstbeschreibung stimmt. Ausgangspunkt und Endpunkt des Romans und der prägenden Erlebnisse (mitten im 2. Weltkrieg) ist die Begegnung mit dem Schriftsteller Arthur Hanger, der ihr schon zu Beginn des Buches bestätigt, dass sie eine Schriftstellerin ist. Das geht zwischendurch unter, wenn man vom Schulalltag, von den strengen Regeln und von dem Eingeengtsein zwischen Schule, Familie und den Kriegsverhältnissen hört. Der abstruse Besuch einer Teestube, in welcher die jungen erstmals einen Tee zu sich nehmen wollen und sie irgendetwas Süßes hingestellt bekommen, wird ebenso ein Wendepunkt in dem Leben des jungen Mädchens. Dann kommt die verrückte Missis Hopkins als Stammkundin, welche einen echten Tee mit allen dazugehörigen Dingen ala Oscar Wilde serviert bekommt. Sie übernimmt die Kosten für den Tee der Mädchen, die sie bei sich mitessen lässt. Nicht so verrückt wie Lewis Carolls Teaparty in "Alice in Wonderland" und trotzdem typisch britisch skurril. Weit weg von Verona alias Shakespeares "Romeo und Julia" verläuft das Leben. Eine Mutter immer in Bewegung, immer zu spät ist, die immer den Herd mit den kochenden Töpfen alleine lässt und Jes muss dann das Essen retten oder Brandschäden im letzten Moment abwehren. (Erinnert es uns an das weiße Kaninchen das immer zu spät ist und der Zeit hinterher läuft?) Ihre beste Florence versteht Jessica sehr gut, mag sie vielleicht nicht. Dann gibt es die schrullige Miss Philemon, zu der sich Jes immer flüchtet. Diese Lehrerin ist emotionaler, menschlicher und kreativer. Sie schickt schlussendlich Jes Gedicht zum Wettbewerb ein. Dieser Wettbewerb, zu dem Arthur Hanger nach der Lesung seiner Werke in der Schule alle eingeladen hat. Alle Schulen beteiligen sich daran und das beste Gedicht wird von der Times veröffentlicht.
Ja, packend ist die Geschichte der Jugend in der Kriegszeit geschildert, die Standesunterschiede, die Klassenunterschiede, der Kampf zwischen Arm und Reich, alles vereint. Obwohl Jessica im Vergleich zu ihren besten Freundinnen eher nicht zu arm ist, weil sie einen Shilling mehr für besseres Schulessen bekommt, lebt sie sehr beengt und bescheiden in dem Pfarrhaus ihrer Eltern. Ihr Vater wurde ein einfacher Hilfsgeistlicher, der sich sehr für soziale Belange einsetzt und deswegen von Christian als Kommunist bezeichnet wird. Die erste Liebe von Jes, das ist dieser Christian aus sehr guter Familie, der sich auf die Lebensverhältnisse der Armen aufmerksam macht. Er darf sonntags mit ihr ins Armenviertel und dort erleben sie einen argen Bombenangriff, den sie einigermaßen unbeschadet überstehen. Christian ist danach krank, hat eine Verletzung am Kopf davon getragen. Jes schreibt ihr wunderbares Gedicht und schläft sich dann auf einmal tagelang aus --- eine verzögerte Schockreaktion. Aufgrund ihrer schriftstellerischen Begabung, weil sie alles ausspricht, was für sie zwar immer wahr, für andere nicht immer nachvollziehbar ist, übersteht sie alles unbeschadet. Ihre Welt bleibt durch ihr emotionales und leidenschaftliches Erleben voller Geheimnisse und für andere verborgene Zusammenhänge. Auch wenn das junge Mädchen nicht alles von dieser Welt versteht, wenn sie auch an ihrer Begabung zweifelt, so bleibt sie ihrem schriftstellerischen Talent treu. Damit hat sie mich in eine lebendige und hoffnungsvolle Welt entführt mit einem Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte. Ja, ich habe es verschlungen.