Spannende Familiengeschichte vor realem Hintergrund

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Constanze Neumann – Wellenflug

Zwei Frauen, die nichts verbindet außer die Liebe zu einem Mann, dem Sohn der einen und dem Ehemann der anderen. Anna wird 1856 in eine großbürgerliche jüdische Familie in Leipzig hineingeboren, der Vater ist Tuchhändler und will seine Herkunft aus einem kleinen schlesischen Dorf möglichst vergessen. Er mag es nicht, wenn seine Frau Jiddisch mit der Köchin spricht, er möchte dazugehören zur Mehrheitsgesellschaft. Anna ist zwar das einzige seiner Kinder, das sich wirklich für die Firma interessiert, doch sie ist ein Mädchen, deshalb geht es nur darum, sie gut und strategisch sinnvoll zu verheiraten. Das gelingt, sie wird die Ehefrau des Sohns eines befreundeten Tuchhändlers aus Berlin. Als ihr Mann kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter stirbt, lässt sie sich davon nicht unterkriegen, und obwohl sie es nicht müsste, heiratet sie nach einem Jahr seinen älteren Bruder. Der älteste gemeinsame Sohn, Heinrich, entwickelt sich jedoch nicht nach den Vorstellungen der Eltern, er ist spielsüchtig und amüsiert sich lieber in den Berliner Clubs und Varietés, als sich für die Firma seines Vaters zu interessieren. In einem dieser Etablissements lernt er Marie kennen, ein einfaches Mädchen, das vom aufregenden Großstadtleben geträumt hatte, bevor sie ihren Heimatort in der Nähe von Magdeburg verließ.
Doch Heinrichs Mutter will seine Beziehung mit Marie nicht anerkennen, es kommt zum Bruch. Doch auch ein Neuanfang in den USA kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heinrich nicht von seiner Familie loskommt, er möchte trotz der unsicheren politischen Lage zurück nach Deutschland.
Constanze Neumann hat in diesem Roman ihrer eigenen Familiengeschichte nachgespürt, Anna und Marie sind reale Personen, Heinrich ihr Urgroßvater. Das macht den Roman trotz der eher konventionellen und chronologischen Erzählweise eindringlich. Als Roman verpackte Familiengeschichten sind gerade beliebt, und manchmal entsteht der Eindruck, dass ein verwandtschaftliches Verhältnis einer in ihrer Widersprüchlichkeit nachvollziehbaren Figurenzeichnung im Wege steht, da den bekannten Eckdaten Leben eingehaucht werden muss. In diesem Fall ist es schwer, die kindliche Anna mit der unerbittlichen Erwachsenen zusammenzubringen, ebenso bleibt unklar, ob die Beziehung zwischen Heinrich und Anna wirklich eine große Liebe ist oder eher ein Zusammenschluss von zwei Personen, die sich aufgrund der Umstände gegenseitig brauchen. Am stärksten ist der Roman jedoch, wenn Neumann sich ein Stück von ihren Figuren entfernt und die Auswirkungen der Weltgeschichte auf das Familiäre aufzeigt.
Ein empfehlenswerter Roman für alle, die gern Familiengeschichten lesen und gleichzeitig gern reale Personen googeln.
„Viel später, als Marie allein war, dachte sie, dass all die Jahre Abschied gewesen waren, schleichend und schmerzhaft wie tausend Nadelstiche. Immer wieder sah sie sich nach Annas Beerdigung am Fenster stehen und auf die Straße blicken, auf der die Männer mit den braunen Hemden marschierten.“