Wie ein lebendiger Stammbaum…

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annee Avatar

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… so müsste „Wellenflug“ von Constanze Neumann meiner Meinung nach charakterisiert werden.
Was ich damit meine, ist eine Ahnentafel – ein Papier mit Namen und Zahlen – das auf einmal lebendig wird, weil hinter den Namen und familiären Verbindungen Menschen und Lebensgeschichten stehen, die mit Artefakten und Erinnerungen auf besondere Art und Weise verbunden werden.

Die Geschichte beginnt mit einem Rückblick: Während die Erzählerin „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ als Schullektüre lesen muss, wird sie von ihrem Großvater beobachtet, bei dem der Blick auf die Lektüre lange vergessene Erinnerungen hervorruft, und sie erfährt durch Zufall mehr über sich und ihre Familiengeschichte. Ein kurzer Moment – eine Hinführung – verbunden mit Erinnerungsstücken und einer Ahnentafel, die nun nicht mehr nur auf dem Papier erscheint, sondern durch die Zeiten hindurch real wird.

Da ist Anna. Tochter schlesischer Juden, die mehr aus ihrem Leben machen möchten. Ihre Familie ist aufstiegsorientiert, tüchtig und sie haben ein Gespür für die richtigen geschäftlichen Entscheidungen. Geschäftspartner werden gefunden, die richtigen Ehepartner ausgewählt. Beispielhaft für die Zeit des Kaiserreichs in Deutschland.

Wäre da nicht Arthur, äh Heinrich, nein Arthur! Also das schwarze Schaf im Stammbaum. Arthur Prins-Reichenheim, der sich nicht an die Regeln der gehobenen Gesellschaft hält. Der Spielsüchtige. Der Verlierer. Und sein Patenkind. Heinrich. Sohn von Anna, der Schicksalsgebeutelten, die endlich – ja endlich – ein Kind, ihren Sohn Heinrich, in den Armen hält und diesen grenzenlos liebt…

Und wären da nicht die gesellschaftlichen Konventionen. Die Erwartungen. Die Familiengeschichte, die eigentlich schon geschrieben ist und nur wenig Raum für Ausreißer hat, die es aber trotzdem gibt: Erst Arthur – dann Heinrich, deren Geschichten von den wichtigen Frauen in ihrem Leben – erst Anna – dann Marie – erzählt werden.

Die eine tüchtig, schicksalsergeben und mit angemessener Herkunft. Die andere authentisch und aus einfachen Verhältnissen. Dazwischen steht Heinrich – geprägt von Arthur, erzogen von Anna und geliebt von Marie.
Ein Wellenflug, ein Auf und Ab durch verschiedene Zeiten und Orte, der mitreißt, verstört und letztendlich einen Platz im Gedächtnis des Lesers/der Leserin einnimmt.

Da mich das Cover und der Titel zunächst nicht angesprochen hatten, ist „Wellenflug“ für mich ein ganz besonderer, absolut unterschätzter Roman, der mich bei der Lektüre von Beginn an begeistert sowie den Wert und Einfluss von Familie eindrucksvoll deutlich gemacht hat.

Ich danke dem ullstein Verlag und vorablesen sehr für dieses Rezensionsexemplar