Eine kluge Analyse der weltpolitischen Gegenwart

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
missmarie Avatar

Von

Die wertebasierte, friedliche und auf Abrüstung zielende Außenpolitik ist aus heutiger Perspektive unrealistisch - das ist eine der zentralen Thesen, die der Professor für Politikwissenschaften in seinem Sachbuch "Welt in Aufruhr"aufstellt. In Zukunft, so die These weiter, wird die Außenpolitik vor allem durch pragmatische Einigungen zwischen Machthabern geprägt sein - und weniger durch die überwiegend westlichen Wertvorstellungen über Menschenrechte und Völkerverständigung.

Münkler erklärt in seinem Buch, wie sich die Welt seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert hat und warum die Außenpolitik heute eine andere ist als noch vor zwanzig Jahren. Dabei möchte er kein Buch schreiben, dass den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erklärt. Wohl aber spielt dieser Krieg immer wieder eine leitende Rolle in den einzelnen Kapiteln. Das ist in sofern interessant, als dass Münkler Anfang der Nullerjahre noch die Theorie vertrat, dass die Kriege der Gegenwart sogenannte neue Formen kriegerischer Auseinandersetzungen sind, bei denen sich asymmetrische Kriegsparteien gegenüberstehen. Daher war ich besonders gespannt darauf, wie es Münkler gelingt, den eher klassischen Ukraine-Krieg zu erkläre, ohne sein Theorem neuer Kriege zu schwächen. Das ist ihm in "Welt in Aufruhr" insofern gelungen, als dass er diese Konfliktebene vollkommen aus dem Blick lässt. Stattdessen steht das Verhältnis zwischen Staaten auf dem internationalen Parkett im Vordergrund.

Um das Verhalten zu erklären und Hypothesen über die zukünftige Außenpolitik aufzustellen, verwendet der Wissenschaftler Modelle und Beispiele aus der Geschichte. So lassen sich nicht nur Elemente aus der Spieltheorie finden, sondern auch zur Bildung von Großreichen (Vegetus-, Dante- und Comte-Spencer-Theorie) oder Anlehnungen an Carl Schmidt. Hier kann man vielleicht kritisch anmerken, dass diese Modelle und Theorien vor allem westlich orientiert sind und einen eher männlichen Blick auf die Geo- und Außenpolitik darstellen. Dennoch ist es faszinierend lehrreich zu lesen, wie Münkler die auf den ersten Blick schon recht angestaubten Theorien lebendig auf die Gegenwart bezieht.

Einfach zu lesen ist das Sachbuch hingegen nicht, auch wenn es sich eher an ein allgemeines statt an ein Fachpublikum richtet. Zum Teil sind die historischen Ausführungen recht weitschweifend, reichen vom osmanischen und römischen Reich über Florenz im Mittelalter bis hin zum Kalten Krieg. Wer also nach einer knappen Erklärung für die Kriege auf dem europäischen Kontinent sucht, muss viel Geduld mitbringen. Und auch einiges Vorwissen aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen setzt Münkler bei den Lesern voraus. Zwar muss man ihm zugute halten, dass er vieles auch erklärt. Dennoch müssen dem Leser nicht nur Begriffe wie Appeasement Politik ohne Erklärung zur Verfügung stehen, sondern auch der ein oder andere Fachbegriff.

Dennoch lohnt sich die Lektüre in jedem Fall. Neben einer genauen Analyse der Gegenwart erhält der Leser eine Fülle an historischem Wissen und Einordnungen, mit deren Hilfe sich die Gegenwart besser verstehen lässt.