Ordnung in der Welt(un)ordnung!

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"Immanuel Kant sagte einst: "Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos." In gewisser Weise scheint es uns in unserer Zeit ähnlich zu gehen, in der ein deutscher Bundeskanzler von einer 'Zeitenwende' spricht, jedoch keine Erklärung liefert. Eine Zeit, die vom Ukrainekrieg, dem Nahostkonflikt, sozialen und politischen Umwälzungen sowie westlichen und anti-westlichen Narrativen geprägt ist. Dieser Umbruch in der Weltordnung wird von dem deutschen Politikwissenschaftler Herfried Münkler analysiert und erklärt. In seinem Buch „Welt in Aufruhr: Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ versucht der emeritierte Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, die Möglichkeiten einer neuen Weltordnung zu antizipieren und zu erläutern. Herfried Münkler ist ein Experte für Politische Theorie und Ideengeschichte und hat bereits erfolgreiche Werke wie „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ oder „Die neuen Kriege“ veröffentlicht.
Münklers 528-seitiges Buch beginnt angemessen mit einem Zitat von André Malraux und Karl Marx.In der Einleitung beschreibt der Autor den Wandel der Weltordnung im Laufe der Zeit. Er spannt den Bogen von der bipolaren Welt des Kalten Krieges zur Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten und den heutigen Verhältnissen an der Schwelle einer neuen Weltordnung. Die Einleitung ist etwas mühsam und sogar etwas ermüdend, aber man sollte die Flinte nicht ins Korn werfen, denn danach nimmt das Buch Fahrt auf.
Das erste Kapitel widmet sich dem Ringen um die politische Ordnung Europas. Eine Analyse von Münkler beschäftigt sich mit der Abrüstung in Europa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese führte dazu, dass die Bedrohung durch eben jene entfiel. Im Anschluss erklärt der Autor, wie das Modell eines abgerüsteten Friedens als Leitbild für Europa etabliert wurde. Im weiteren Verlauf werden verschiedene Friedensordnungen wie das Vegetius-, Dante- oder Comte-Spencer-Modell vorgestellt. Diese Friedensmodelle werden im Hinblick auf die Neuordnung der Europäischen Union und die Integration Russlands und seiner ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten zum Gegenstand der Betrachtung. Münkler zeigt eindrucksvoll auf, dass die politikwissenschaftliche Überlegung der EU zwar richtig war, aber die Umsetzung unter den Bedingungen der Energiepolitik fehlerhaft war. Er bezieht sich auf die russische Oligarchie und die fehlende Partizipation der russischen Bevölkerung an den Maßnahmen der Europäischen Union. Dies wird überführt in die Maßnahmen die der Politik gegen revisionistische Mächte zur Verfügung stehen, und warum die europäischen Staaten hier den richtigen Weg, aber das falsche Vehicle gewählt habe.
Im zweiten Kapitel befasst sich der Autor mit Geopolitik und Weltordnung und erläutert die Theorie der Großreichsbildung und des Westens bzw. Ostens als geopolitische Orientierung. In diesem Zusammenhang wird der Zerfall der europäischen Kolonialmächte und die daraus resultierenden Folgen rekapituliert. Besonders interessant ist die Passage über die deutsche Mittellage, da sie ein Verständnis für die Handlungen der Bundesrepublik in der Vergangenheit vermittelt.
Das dritte Kapitel widmet sich den Modulen der Weltordnung und stellt anhand historischer Beispiele die Frage nach dem Weltkonzept. Im Anschluss wird die unipolare Weltordnung mit ihrem Herr-/Hüter-Problem diskutiert und die Probleme dieser Konzeption aufgezeigt, die vom Hegemon einen umfassenden Einsatz militärischer und ökonomischer Mittel verlangt. Das Modell der Pentarchie steht dagegen, das nach dem Dreißigjährigen Krieg in Europa lange Zeit gegolten hat und die Notwendigkeit eines "Züngleins an der Waage" beinhaltete. Auch die binäre Weltordnung wird unter die Lupe genommen.
Das nächste Kapitel thematisiert Narrative und Bilder von Weltordnungen und behandelt diese in Bezug auf die Ukraine, Russland, die USA und China. Dabei wird das Gleichnis von Leviathan und Behemoth ausführlich rezipiert. Im vorletzten Kapitel haben die Analytiker der großen Umbrüche das Wort. Den Anfang macht Thukydides mit seinem Werk zum peloponnesischen Krieg und der mehrfach im Buch erwähnten, aber im politwissenschaftlichen Kontext viel diskutierten, "Thukydides Falle". Auch der bereits von Münkler untersuchte Machiavelli sowie Clausewitz mit seinen Thesen zum "absoluten und wirklichen Krieg" werden vorgestellt.
Im letzten Kapitel beschreibt Münkler die sich abzeichnende Weltordnung der Großen Fünf mit den USA, der EU, Russland, China und Indien. Er antizipiert diese Ordnung anhand von Einflusszonen und beschreibt das Für und Wider dieser Konstellation. Darüber hinaus erkennt er zwei unterschiedliche Wertesysteme und weist auf Indien als möglichen Mittler hin. Weiterhin wird belegt, dass diese Konstellation auch scheitern und in eine "Anarchie der Staatenwelt" abdriften kann, was an der aktuellen Situation unter den Mächten deutlich wird. Auch dass eine Großmacht wie Russland oder die EU durch eine Macht aus der "zweiten Reihe" ersetzt werden könnte, erwähnt Münkler.

Das Buch ist eine uneingeschränkte Empfehlung und führt zu einem tieferen Verständnis der aktuellen Weltlage. Es ist klar und präzise geschrieben, und Münkler veranschaulicht seine Beispiele gut. Nach einer etwas schwachen Einleitung nimmt das Buch an Fahrt auf. Der Rowohlt Verlag hat dem Buch ein dezentes, jedoch ansprechendes Cover verliehen und das Werk verfügt über eine angenehme Papierqualität sowie eine flüssige Lesbarkeit. Mein Fazit lautet: Das Buch ist informativ, interessant, gut erklärt und wertvoll.