Viel Fahrwasser, nicht tief genug!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
ikatzhorse2005 Avatar

Von

Wenn die Tage länger werden von Anne Stern

Hans spielte auf einer Geige. Zunächst Tonleitern, Dreiklänge, kurze Fingerübungen. Dann eine Etüde, die sie wiedererkannte, weil er sie früher manchmal gespielt hatte. Schließlich war er zu Sonaten übergegangen. Die Klänge wurden selbstbewusster, tragender, sie flossen aus der Werkstatt durch den düsteren Korridor und das Küchenfenster. Zu Ute, die zu erschöpft im eisernen Gartenstuhl auf der noch regenfeuchten Wiese saß und mechanisch Bellas Kopf streichelte, der die Musik, die aus den Holzdingern kam, nie ganz geheuer war.
Ute lauschte, halb ungläubig, halb bewundernd. …
… Und welche Geige es war, auf der er schon über eine Stunden spielte. Doch nicht etwa die von Lisa Fischer? S.131

Lisa Fischer, von ihrem Partner getrennt lebend, alleinerziehend und tagtäglich in Selbstzweifeln gefangen, steht hier im Mittelpunkt in der vorrangig aus ihrer Sicht erzählten Geschichte. Im laufenden Text werden dem Leser zu viele Fragen entgegengeworfen, die direkt aus Lisas Gedanken herauspurzeln. Sie hadert mit ihrere Rolle als alleinerziehende Mutter, ihrer Rolle als Tochter und gescheiterten Partnerin, ob sie überhaupt gut genug ist sowie mit ihrem Aussehen und diversen anderen Unzulänglichkeiten. Ihre Unsicherheit verstehe ich nicht, da sie mit beiden Beinen als Frau und Mutter fest im Job und im Leben steht. Aufgaben zu erledigen, Verantwortung zu übernehmen, Selbsteinschätzung und Souverenität gehören, für mich, zu diesen Rollen dazu, um ein Vorbild zu sein. Man schwächelt gelegentlich, doch nicht durchgehend?! Da sind ihre Schüler, die Eltern und ihr Sohn! Doch am meisten hat mich, in Lisas Gedankengängen, die wiederkehrenede Auseinandersetzung mit dem Rollenklischee von Mann und Frau in unserer Gesellschaft genervt.

Des Weiteren werden viele wichtige Themen behandelt, die im Zuge der Fülle eher eine Randposition besetzten. Da sind Ute und ihr Vater Hans auf dem alten Gehöft mit den vielen Kirschbäumen. Die Beschreibungen rund um die Lokalität, die anstehenden Aufgaben und die zukünftigen Sorgen von Ute fand ich treffend beschrieben. Die bodenständige Ute ist meine Lieblingsfigur im Roman. Auch Hans ist ein liebgewonnener Charakter. Durch dessen Arbeit bekommt man einen detaillierten Einblick in das Handwerk des Geigenbauers. Die weiteren Charaktere sind gut dargestellt, doch an mancher Stelle hätte ich mir für die ein oder andere Figur mehr Tiefe gewünscht. Eine weitere Hauptdarstellerin ist die Geige aus dem Familienbesitz von Lisas Großvater. Dieser Strang ist sehr interessant. Die Verbindung und den Zugang zum Nationalsozialismus und den Ungerechtigkeiten sowie Boshaftigkeiten gegenüber den Juden findet die Autorin über genau diese Geige. Auch hier hätte dem Text ein wenig Intensität gut getan.

Zur Familie gehört noch Lisas agile Mutter, die in Bezug auf die Vergangenheit lieber schweigt. Das bezieht sich auf den Tod ihres Mannes und die Vergangenheit ihres Vaters. Die Differenzen und die Sprachlosigkeit in der Mutter-Tochter-Beziehung kann ich ebenso nicht ganz nachvollziehen. Nicht eindeutig und wenig lösungsorientiert! Dann wären da noch Lisas Beziehungen, der Expartner und neue Bekanntschaften. Wohin die Reise geht lässt die Autorin teils offen.

Fazit: Anne Stern ist mir als Autorin bekannt. Gern habe ich die Dresden-Triologie rund um die Semperoper sowie die Geschichten der Frauen vom Karlsplatz gelesen. Der Schreibstil hat mich immer gefesselt und ihre bildhaften, emotionalen Beschreibungen gefangen genommen. Im vorliegenden Roman hat die Autorin vielleicht einfach zu viel gewollt. Die Schwere der Themen liest sich erdrückend und Lisa selbst ist nicht gerade entusiastisch, eher deprimierend und träge. Hoffnung kommt erst ganz am Ende auf, so dass ich mich an ein oder anderer Stelle durch den Text mit einzelnen Wiederholungen gequält habe und manche Zeile überlesen musste. Meine Erwartungen wurden leider nicht ganz erfüllt.

Ein gutes Buch, doch nicht das Beste von Anne Stern. Mir fehlen der Fokus und die Konzentration auf ein Thema sowie eine gewohnt brillant erzählte Geschichte!