Außergewöhnliche Geschichte über vier Generationen, voll von Symbolik und magischem Realismus

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Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten, denn die verraten dich nicht, sie sterben still. Das scheint zum einen eine real-pragmatische Tatsache zu sein, die es der in diesem Buch vorgestellten Familie erleichtert, auch in Kriegszeiten, wenn sogar Schlachtungen der eigenen Tiere rationiert sind, gut zu überleben.

Henrike, die Urgroßmutter der Ich-Erzählerin Alma, gelingt es so immer wieder mal, heimlich ein Tier zu schlachten und alle Teile davon zu verwerten, um dem Gatten und Sohn auf Fronturlaub besondere, nahrhafte Köstlichkeiten anbieten zu können. Dieses Buch wäre aber nicht, was es ist, wenn es sich nicht lohnen würde, auch noch auf anderen Ebenen über diesen Satz nachzudenken: über das Leben und Sterben, über das Schlachten, über die, die im Verborgenen getötet werden.

Geboren-Werden und Sterben sind zwei wichtige Säulen, die dieses Buch tragen und beide von Frauen symbolisiert werden: da gibt es die tüchtige Hebamme Anna, die so vielen Kindern ins Leben hilft, während der Kriegszeit verweigert, eine illegale Abtreibung durchzuführen (und doch die ungewollt Schwangere auf den früh blühenden Weizen verweist, dessen Mutterkorn Fehlgeburten auslösen kann) und später doch solche durchführt, die manchmal gelingen und manchmal nicht.

Wirkt das Buch zuerst wie eine recht normale österreichisch-deutsche Bauerngeschichte, so zeigt auch diese Figur, dass mehr dahinter ist: Anna ist ein Archetyp, keine reale Figur, denn sie scheint jenseits von Zeit und Raum an ganz unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Orten und zu verschiedenen Zeiten aufzutauchen. Genauso wie ihre Kollegin Nora, die die Menschen gemeinsam mit den schon vorangegangenen Ahnen über die Schwelle aus dem Leben und ins Jenseits begleitet. Gekleidet ist sie an der Oberfläche in schwarz, für die trauernden Hinterbliebenen, doch darunter trägt sie alle bunten Farben, die immer wieder mal an der einen oder anderen Stelle schillernd hervorblitzen.

Oft treten die beiden gemeinsam auf, denn nicht so selten liegen Geboren-Werden und Todesgefahr ganz nah beieinander: wenn eine misslungene Abtreibung dazu führt, dass das Baby, das schließlich Miriam, das ungeliebte dritte Kind und später die Mutter der Ich-Erzählerin Alma, sein wird, doch geboren wird. Oder auch, noch viel mysteriöser, wenn Henrike als erstes Kind einen Sohn gebärt, der viele Jahre nur schlafen wird und bei dem selbst der Pfarrer rät, dafür zu beten, er möge von seinem Leiden erlöst werden - und der dann auf einmal, fast schon erwachsen, plötzlich die Augen öffnet und ein fast normaler junger Mann wird, als hätte er im Schlaf alle nötigen Fähigkeiten dazu erworben, aber zeitlebens blind bleibt für so vieles.

Geschichten über das bäuerliche Österreich habe ich schon viele gelesen, aber noch keine, die mit diesem subtil und geschickt eingewobenen magischen Realismus und der punktgenauen, poetischen Sprache dermaßen zum Nachdenken anregt. Szenen des bodenständig-pragmatischen Alltags im ländlichen Umfeld wechseln sich mit magischen Einschüben ab und die Leserinnen und Leser sind angehalten, mit ihrer Aufmerksamkeit voll bei diesem Buch zu bleiben, um überhaupt zu bemerken, wann es wieder zu einem Wechsel zwischen den Welten kommt. Oder sind die beiden Welten, die bodenständig-pragmatische und die surreal-mystische, immer zutiefst miteinander verbunden und wir merken es nur nicht?

Hier zur Illustration noch ein paar ausgewählte Zitate aus diesem besonderen Buch:

"Sie weiß, dass sie auf dem Wochenmarkt zwölf Eier für eine Mark und ein Kilogramm Rindfleisch für drei Mark verkaufen und damit einen Tagelöhner bezahlen kann, um den Stallmist zu streuen. Sie weiß, wie man ein Fieber senkt, eine Wunde verbindet und eine Tinktur gegen Husten braut. Was sie nicht weiß, ist, wie man den Geschwistern die Mutter ersetzt." (S. 14)

"Schlafende sind mir nicht geheuer. Sie sind freiwillige Tote, die mich allein hier zurückgelassen haben. Wohin sie sind, kann ich nicht folgen und das verzeihe ich ihnen nicht." (S. 57)

"Nora zieht die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu, darin ist es angenehm warm mit einem Geruch nach feuchter, dunkler Erde. Sie legt ihr schwarzes Kleid ab, darunter trägt sie heimlich bunte Farben. Das Schwarz ist wichtig für die Lebenden, doch sie ist sich sicher, dass die Toten ihr die Farben nicht verübeln. Nora mag ihre Arbeit, es ist das Einzige, wofür sie eine Begabung hat. Wenn sie über die Schwelle eines Hauses tritt, weiß sie sofort, ob hier ein Sterbender oder ein Toter liegt. Es ist ihr lieber, wenn sie nicht zu früh gerufen wird, wenn sie den Pfarrer und die Familie fortschicken und in Ruhe beginnen kann." (S. 199)

Leseempfehlung für alle, die sich auf eine besondere Erzählweise österreichisch-deutscher, bäuerlich geprägter Familiengeschichte unter der Linse des magischen Realismus einlassen können, der in diesem Buch gegen Ende zunehmend mehr Raum einnimmt, wodurch es sich immer weiter von der uns als bekannt angenommenen Realität entfernt, dadurch allerdings auf sehr interessante Art und Weise bisher Bekanntes aufbricht und mit seinen Metaphern neue gedankliche Wege anregt.