Außergewöhnliche, unbedingt lesenswerte Familiengeschichte

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Bäuerin Henrike, die Urgroßmutter der Icherzählerin Alma, muss seit dem Tod ihrer Mutter allein mit Hof und Haushalt klarkommen. Schon als Kind lernte sie alle Arbeiten einschließlich Schlachten und Wursten von ihrer Mutter, um die Verantwortung für den Haushalt übernehmen zu können, falls die Mutter starb. Das Hereinholen eines verängstigten Schlachttiers auf den Hof war offenbar Männerarbeit. Henrike traut es sich nicht zu. So schlachtet sie vorsichtshalber nur ein Schaf, allein; denn ihr Mann Georg ist mit knapp 40 Jahren noch an die Westfront des Ersten Weltkriegs eingezogen worden. Beim illegalen Schlachten während der Kriegsbewirtschaftung darf die Bäuerin sich nicht erwischen lassen.

Georg wurde zwar als Arbeitskraft auf dem Hof benötigt, war jedoch nicht zum Bauern geboren und wird später Verständnis zeigen, dass es seine Kinder aus dem Dorf in die Ferne zieht. Sohn Benedikt öffnete erst als 15-Jähriger die Augen, sprudelt dann jedoch vor Ideen über, was er auf dem Hof anpacken will und welche Unterstützung er sich dabei von der „neuen Partei“ erhofft. Die zupackende und kommunikationsfreudige Tochter Hilde weiß früh, dass sie keine Bäuerin werden will und nutzt die erstbeste Gelegenheit, mit dem Soldaten Konrad in die Ferne zu ziehen. Ihre Söhne werden zukünftig nicht mehr allein danach bewertet, ob sie die frühe Kindheit überleben. In der Sippe wird es von nun an ersehnte und abgelehnte Kinder geben, angezweifelte Vaterschaften, einander durch den Krieg entfremdete Paare, Eltern, die über den Krieg schweigen, und einen erschreckenden Mangel an Empathie.

Neben der Familiengeschichte im historischen Kontext ist auch der Strukturwandel in der Landwirtschaft Thema, sowie Umbrüche in Dorfgemeinschaften, die sich hier an Hebamme und Bestatterin festmachen lassen – und schließlich die Rolle der Zitronen im Dorfleben erklären …

Die offensichtlichen Lücken zwischen den Familienanekdoten zeigt Anna Maschik durch eine verknappte Sprache, die Raum für eigene Gedanken ihrer Leser:innen lässt, aber auch im Schriftbild von jeweils zwei gegenüberliegenden Buchseiten. Es gibt vielsagend leere Seiten, Gegenüberstellungen zweier Perspektiven und unvereinbare Sichtweisen. Die verknappte Sprache führt leider auch zu Ungenauigkeiten in der Schilderung alltäglicher Vorgänge wie Waschen und Schlachten, die meinen Lesefluss eher gestört haben.

Auf einer der Erzählebenen vollzieht der Text sprachlich einen Wechsel zu einem fremd wirkenden Wortschatz, den die Bewohner:innen des Reetdachhauses vermutlich nicht verstanden hätten. Meine Großmutter, die aufwuchs wie Henrike, wäre von der Machtübernahme durch unbekannte Dialektausdrücke sicher befremdet gewesen; wie Anna Maschiks Matriarchin hatte sie ihr Dorf noch nie verlassen.

Auch wenn ich mir an einigen Stellen größere Präzision in der Darstellung alltäglicher Tätigkeiten gewünscht hätte, durch die verknappte Sprache eine außergewöhnliche, unbedingt lesenswerte Familiengeschichte.

Da Typografie und Satzspiegel wichtige Elemente dieses Romans sind, empfehle ich die Printausgabe.