Arbeitsmigration exemplarisch dargestellt

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Das Thema Arbeitsmigration hat Marco Balzano schon in einem früheren Roman aufgegriffen. In seinem Buch „ Das Leben wartet nicht“ ging es um Kinder aus dem armen Süden Italiens, die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen haben, um im reichen Norden Arbeit zu finden.
In seinem neuesten Roman geht es nun um das Heer der Frauen aus Osteuropa , die als Pflegekräfte in den wohlhabenden europäischen Ländern arbeiten und dort deren Sozialsysteme vor dem Kollaps bewahren. Was das für die Frauen und deren Familien bedeutet, zeigt er uns hier exemplarisch.
Daniela ist eine dieser Frauen. Sie lebt in einem kleinen Ort in Rumänien. Die Zeiten sind hart. Die Ceaucescu- Diktatur hat ein kaputtes Land hinterlassen. Ihr Mann hat seine Arbeit in der Fabrik verloren, ihr Arbeitgeber ist mittlerweile zahlungsunfähig. Da entschließt sich Daniela zur Flucht. Bei Nacht und Nebel reist sie nach Mailand , wo ihr eine Freundin einen Job als private Altenpflegerin besorgt hat. Zurück lässt sie ihren Mann und ihre beiden Kinder, den 12jährigen Manuel und die acht Jahre ältere Tochter Angelica. Der Schritt fällt ihr schwer, doch sie sieht keinen anderen Ausweg. Für ihre Kinder und deren Zukunft macht sie es; die sollen es einmal besser haben.
Doch Manuel ist fassungslos. Er kann nicht verstehen, dass seine Mutter gegangen ist ohne ein Wort. Er verzeiht ihr das nicht und unterstellt ihr, dass sie sich in ein Italien ein schönes Leben machen will.
Der Vater ist völlig überfordert mit der neuen Situation. Bald darauf verschwindet auch er, verdient nun sein Geld als LKW- Fahrer zwischen Polen und Russland. Angelica übernimmt die Mutterrolle für ihren jüngeren Bruder. Doch später zieht sie zum Studium in die Stadt.
Manuel wechselt, dank des Geldes, das Daniela schickt, auf ein privates Gymnasium. Aber hier fühlt sich der Junge überhaupt nicht wohl. Ständig bekommt er zu spüren, dass er nicht dazugehört. Als bald darauf auch noch der Großvater stirbt, der einzige Vertraute des Heranwachsenden, verliert Manuel jeglichen Halt und er begeht eine folgenschwere Dummheit.
Diesen ersten Teil der Geschichte erfährt der Leser aus der Sicht Manuels. Nun, im zweiten und umfangreichsten Abschnitt des Romans, wechselt die Perspektive. Hier ist es die Mutter, die zu Wort kommt. Sie sitzt am Bett ihres im Koma liegenden Sohnes und erzählt ihm von ihrem Leben in Italien. Am Anfang ist sie völlig überfordert mit der neuen Aufgabe. Rund um die Uhr alte Menschen betreuen und pflegen, ist ein harter Job. Noch dazu, wenn man dafür überhaupt nicht ausgebildet wurde. Sie erzählt von der Ausbeutung als illegale Arbeitskraft, von Rassismus und Einsamkeit. Vier Jahre wird Daniela in Italien bleiben, arbeitet als Altenpflegerin oder als Kindermädchen. Dabei verlässt sie nie die Sehnsucht nach daheim, nach ihren Kindern. Doch sie spürt, dass sie nach und nach die Verbindung zu ihnen verliert. Die Telefongespräche werden immer kürzer und nichtssagender. Bei ihren seltenen Besuchen bringt sie Sohn und Tochter neue Handys und schicke Markenklamotten mit, aber Einfluss hat sie keinen mehr auf sie.
Im dritten Teil sehen wir Danielas Fortgehen noch aus der Perspektive der älteren Tochter. Sie kommt emotional mit dem Verlust der Mutter besser zurecht, da sie schon ein eigenständiges Leben führt und auch eine stärkere Bindung zum Vater hat. Was sie überfordert ist die Erzieherrolle bei ihrem Bruder. Doch für Angelica scheint sich Danielas Einsatz gelohnt zu haben. Sie hat ihr Studium erfolgreich abgeschlossen.
Dass sich der Autor für drei Perspektiven entschieden hat, gibt ihm die Möglichkeit, die Problematik von allen Seiten zu beleuchten. Mit Daniela richtet er seinen Fokus auf das Schicksal dieser Frauen, die auch bei uns eine wichtige Funktion erfüllen. Unsere zunehmend alternde Gesellschaft stellt uns vor große Probleme. Wer kümmert sich um die Alten und Pflegebedürftigen? Die mittlere Generation kann selten dieser Aufgabe vollumfänglich nachkommen, Plätze in Seniorenheimen sind knapp. Auch möchten viele Ältere ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen. Da bietet sich die Hilfe in Form polnischer ( bei uns ) oder rumänischer ( in Italien) Frauen an. Dass sich bei diesen Frauen oftmals ein Burnout diagnostizieren lässt, verweist auf die hohe Belastung psychischer und physischer Art . Als „ Italienkrankheit“ wird diese Diagnose bezeichnet, wie Marco Balzano in seinem Nachwort schreibt.
Es ist nicht nur die Arbeitsbelastung, was die Frauen seelisch krank werden lässt, sondern auch die Sehnsucht nach den Kindern und Schuldgefühle ihnen gegenüber. Das beschreibt der Autor anschaulich an Daniela, die einerseits bei ihrem kranken Sohn um Verständnis bittet, gleichzeitig aber ihm verständlich machen will, dass sie keine andere Wahl hatte.
Doch was diese Situation bei den zurückgelassenen Kindern anrichtet, sieht der Leser an Manuel. Dabei hatte dieser noch Glück. Es gab eine Schwester und Großeltern, die sich kümmern konnten. Manche dieser zurückgelassenen Kinder kommen in Heime oder bleiben sich selbst überlassen.
Abgerundet wird die Geschichte durch die Perspektive der älteren Tochter.
Marco Balzano hat seine Figuren komplex angelegt. Man hat Verständnis für ihre Situation, aber nicht immer für ihr Verhalten. Geschildert wird dies in einer einfachen schlichten Sprache, passend zur jeweiligen Erzählstimme. Trotz des nüchternen Tons berührt einem das Gelesene.
Ebenfalls angesprochen wird, was die Migration für die Region bedeutet. Ganze Ortschaften sterben aus; zurück bleiben oftmals nur die Kinder und die Alten. Perspektivlosigkeit wird mit Alkohol bekämpft. Auch schafft es eine Zwei- Klassengesellschaft. Dort, wo Vater oder Mutter im Ausland arbeiten, hat die Familie mehr Geld und kann sich schmücken mit Konsumartikeln.
Marco Balzano hat für seinen neuen Roman wieder viel recherchiert, mit Betroffenen geredet. So packt er sehr viel Stoff in seine Geschichte, das geht nicht immer ohne Klischees .
Doch er ist ein Autor, der mit jedem seiner Bücher ein Anliegen hat. Hier will er auf ein Schicksal aufmerksam machen, wie es das zu Tausenden gibt. Er löst damit Nachdenklichkeit und Betroffenheit aus.
Ein wichtiges Buch, das sich zu lesen lohnt, auch wenn es nicht an die literarische Qualität seines letzten Romans heranreicht.