Facetten der interfamiliären Entfremdung

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jenvo82 Avatar

Von

„So ist es eben: Solange du nicht die Augen öffnest, geht kein Problem, keiner der Schrecken, die sich jeden Tag ereignen, mich etwas an.“

Inhalt

Manuel Matei wird als Kind von der Mutter zurückgelassen, bei seiner großen Schwester, dem Vater und den Großeltern, denn Daniela, seine Mutter geht nach Italien, um die Familie in der rumänischen Heimat finanziell über Wasser zu halten. Ihre beiden Kinder sollen es einmal besser haben, sollen die Möglichkeit auf eine höhere Bildung bekommen und damit die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Und während Angelica Matei zu Hause die Stellung hält und in ihrer Jugend bereits die Verantwortlichkeiten einer Erwachsenen übernimmt, zieht sich der Vater immer mehr aus dem Familienalltag zurück, begibt sich schließlich als Kraftfahrer auf die Straße und kehrt seinem Zuhause ebenfalls den Rücken. Als schließlich der Großvater stirbt, sieht sich Manuel in einer ausweglosen Situation – wo nur sind seine Bezugspersonen geblieben, wohin ist seine Familie geflohen, warum sieht keiner die Probleme vor Ort und welche Chancen bleiben ihm, wenn er es nicht schafft, sie alle wieder zu vereinen …

Meinung

Auf den neuen Roman des italienischen Autors Marco Balzano war ich sehr gespannt, nachdem mich seine beiden Bücher „Ich bleibe hier“ und „Das Leben wartet nicht“ nachhaltig beeindrucken konnten. Das Dilemma einer Mutter, die sich gezwungen sieht, ihren Lebensunterhalt außerhalb der Familie zu verdienen und die damit einen schmerzlichen Trennungsprozess auslößt, ihn jeden Tag mit sich herumträgt und zwischen Bangen, Zweifeln und Hoffen auf ein Ende dieses Zustands spekuliert. Eindeutig ein interessantes Thema, mit ganz vielen Facetten, mit der unausgesprochenen Frage nach der Schuld und dem eklatanten Mangel eines direkten Schuldigen.

Und dem Autor ist es durch diesen zeitgenössischen Roman tatsächlich gelungen, mich für die Belange der Familien zu sensibilisieren, mich in ihre Lage zu versetzen und mir ein Bild zu machen über dieses fremdbestimmte, unfreiwillige Lebenskonzept jenseits der Heimat, weit weg von den geliebten Menschen. Allerdings findet dieser Prozess eine sehr sachliche, fast neutrale Umsetzung, so dass ich tatsächlich mehr die Fakten als die Emotionen verstehen konnte.

Positiv bewerten möchte ich die drei gewählten Perspektiven, die es möglich machen einen umfassenden, weil nicht nur einseitigen Blick auf das Geschehen zu erhalten. Es spricht der Sohn, der die Entscheidung seiner Mutter nicht nachvollziehen kann, es spricht die Mutter und erzählt aus ihrem Alltag in der Fremde und dem Gedankenkarussel bezüglich ihrer einsamen Entscheidung und letztlich hört der Leser die Ausführungen der älteren Tochter, die zwar die Notwendigkeit erkennen konnte, der aber nun nur ein Wunsch geblieben ist – es anders zu machen, als ihre Mutter. Die entsprechende Gesellschaftskritik wird umfassend und vielschichtig vermittelt, der Leser erkennt auf der emotionalen Ebene, wie traumatisch eine derartige Lebensweise ist und wie nachhaltig und unwiderruflich sie Familien trennt, weil sie vor allem Mütter und Kinder entfremdet und Ehen zerstört.

Allerdings berührt mich der Text längst nicht so sehr wie erhofft, weil eben so viel Wert auf eine verständnisvolle Schilderung der Umstände gelegt wird. Dieses Buch besitzt viel Allgemeingültigkeit und verzichtet dafür auf eine kleine Geschichte, die tatsächlich in die Tiefe geht und intensive Emotionen auslöst. Die Charaktere bleiben mir etwas zu blass, sie scheinen eher sinnbildlich für gewisse Rollenbilder zu stehen, denen sie wiederrum gerecht werden. Das Nachwort finde ich sehr aufschlussreich, weil darin deutlich wird, welchen Fokus der Autor gewählt hat. Dieser Roman soll der Versuch einer Wiedergutmachung sein – Marco Balzano hat den tatsächlichen Menschen hinter den hier gewählten Protagonisten zugehört, hat sich die Stimmen der Frauen und Kinder angehört, die das gleiche Schicksal teilen wie die Familie Matei und daraus seine Story geschmiedet.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Sterne für ein wichtiges Buch, welches von zahlreichen Eindrücken und Gedanken lebt. Es ist eine hervorragende Grundlage für diverse Diskussionen bezüglich gesellschaftlich relevanter Themen, die direkte Auswirkungen auf das Familienleben Einzelner haben. Mir hätte die Geschichte aber besser gefallen, wenn sie persönlicher, trauriger und emotionaler geworden wäre, meinetwegen auch etwas entfremdet zu den realen Begebenheiten, dafür mit Menschen, die ich nicht nur kennenlerne über ihre Handlungen, sondern in erster Linie über meine Identifikationsmöglichkeiten mit ihnen. Dem Autor bleibe ich treu, er wählt für mich sehr lesenswerte Geschichten, die er literarisch ansprechend umsetzt.