leichtfüssig, tanzerisch und ergreifend

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»Wie Kuchenteig, der beim Plätzchenbacken durch die Mühle gedreht wird, quillt Musik aus dem Haus. Durch jede Öffnung quetschen sich bunte Kringel, Schlangen, Stäbchen. Martha lacht.« – S. 27


Martha stellte meine Geduld ganz schön auf die Probe. Nicht wegen einer langatmigen Handlung, nervigen Protagonisten oder allgemein wegen der Geschichte. Sondern viel mehr, weil ich unglaublich lange auf die Buchpost warten musste. Ende Januar auf Vorablesen gewonnen, kam es erst nach dem Veröffentlichungstermin bei mir an. Allerdings hat sich das Warten mehr als gelohnt.

Töne sehen und tanzen
Um die Jahrhundertwende wird in Türnow, einem kleinen Dorf in Pommern ein Mädchen geboren, Martha. Ihr Vater ist Kapellmeister und so wächst Martha in einer Umgebung voller Musik auf. Kein Wunder also, dass sie ein ganz besonderes Verhältnis zu Tönen und Klängen hat. Ein Verhältnis, dass nicht jeder versteht; Martha ist Synästhetikerin und sieht Töne und Klänge als Formen und Farben. Macht sie Musik, geht es ihr in erster Linie darum aus den Tönen ein Bild zu erschaffen, so wie ein Bildhauer sein Kunstwerk formt. Ein ganz und gar ungewöhnliches Talent.

Auf ihrer Suche nach einer adäquaten Ausdrucksmöglichkeit erfährt Martha vom neu gegründeten Bauhaus in Weimar, einer Schule für Kunst und Handwerk. Schnell ist ihr klar, dort will sie hin!
So macht sie sich als junge Frau alleine auf nach Thüringen, um zu studieren. Unterschlupf findet sie in Weimar bei Ella und ihrem Vater Louis Held, der fotografiert und ein Lichtspielhaus betreibt. An der Kunstschule taucht Martha in eine neue Welt ein, sie lernt Walter Gropius, Johannes Itten oder auch Paul Klee kennen. Und endlich kann sie auch ihre ganz eigene Kreativität zum Ausdruck bringen, ihre Formen und Farben tanzen und so ihr ganz persönliches Kunstwerk erschaffen. Sie blüht auf, verliebt sich.
Doch diese Welt wird durch das politische Klima der Zwischenkriegsjahre bedroht und so kehrt Martha 1924 nach Türnow zurück, steigt vorsichtig aus dem Zug, weil »sie im anderen Arm ein Bündel trägt« – S.177 Doch der Krieg macht auch vor Martha’s Heimat nicht halt und sie muss fliehen. Auf der Flucht verliert sich ihre Spur. Was ist geschehen?

»Du bist allein. Du bist eine Frau. Du reist ohne Begleitung. Also bist du die neue Zeit.« – S. 82

Erzählung auf zwei Zeitebenen
All dies erfahren wir aber nicht von Martha selbst, oder zumindest nicht direkt von ihr erzählt, sondern durch ihr Tagebuch, dass in einer Rahmenhandlung von ihrem Urenkel gefunden wird. Diese Rahmenhandlung ist im Jahr 2001 angesiedelt und in ihr erfahren wir mehr über den Fund des Tagebuches bis hin zu dessen Versteigerung bei Sotheby’s in New York. Darin eingebettet liegen die Episoden aus Martha’s Leben, angefangen bei ihrer Kindheit in Pommern, über ihre Zeit am Bauhaus in Weimar, bis zu ihrer Flucht im Jahr 1945. Tom Saller verknüpft diese zwei Erzählstränge nun geschickt zu einer spannenden Familiengeschichte, die mit überraschenden Wendungen und Enthüllungen gespickt ist.
Besonders Martha’s Zeit am Bauhaus, voller Kreativität und neuer Lebensentwürfe ist dem Autor gut gelungen. Atmosphärisch dicht beschreibt Tom Saller ihre Entwicklung an dieser Schule und die Suche nach ihrer künstlerischen Bestimmung, ihr Verständnis von Kunst, aber auch die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten und ihre persönlichen Enttäuschungen. Zudem beschreibt Saller auch die Kunstschule an und für sich mit vielen Details und die politischen Ereignisse drum herum sind genau recherchiert.

Leichtfüssig und spielerisch erzählt
Auch sprachlich überzeugt die Geschichte auf ganzer Linie. Sowohl die Rahmenhandlung wie auch die Erzählungen aus Martha’s Leben sind leichtfüssig und angenehm zu lesen. Tom Saller gibt nachvollziehbare Einblicke in die Gefühlswelten und Gedankengänge seiner Figuren und gewinnt so den/die Leser*in.
Besonders faszinierend war die Umsetzung von Martha’s Erzählung, wo vieles nur szenisch angerissen wird und mit wenigen, wohlgewählten Worten auskommt. Passend zum modernen Stil und der künstlerischen Atmosphäre des Bauhauses wurde für diese Episoden eine prägnante und doch sehr poetische, beinahe tänzelnde Sprache gewählt.

»Ein Missverständnis. Und ein Trauma. Das Trauma des Überlebens. Bei Martha ebenso wie bei Hedi. Der Grund, weshalb meine Grossmutter nur ein einziges Mal, in einem unbedachten Moment, von ihrem früheren Leben erzählt hat.« – S. 261

Einzig das Ende hätte so nicht sein müssen. Ein, zwei Wendungen wirkten sureal, gestelzt, gesucht und waren, meiner Meinung nach, für die Geschichte gänzlich unnötig. Das Spannende, Interessante passiert in Martha’s Erzählungen und durch die Enthüllung der mysteriösen Käuferin des Tagebuchs. Alles andere war schlicht unnötiges Beiwerk.

Fazit
Mit Wenn Martha tanzt ist Tom Saller ein tolles Debüt gelungen. Von der ersten Seite an, wird der/die Leser*in gefangen genommen von Martha’s Geschichte, der einmaligen Atmosphäre am Bauhaus, aber auch den Schrecken des Krieges und den tragischen Ereignissen auf der Flucht. Ich war vor allem von der Zeit am Bauhaus fasziniert, die detailliert und genau recherchiert wieder gegeben wird. Trotzdem konnte ich es nach der Lektüre nicht lassen, mich noch etwas genauer in diese Zeit einzulesen.
Einziges Manko ist und bleibt für mich der gestelzte, gekünstelte Schluss, der mit unerwarteten Wendungen auftrumpfen will, wo dies eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre.
Wer also Freude an leichtfüssiger, spielerischer Sprache, sowie an mit Fiktion vermischten, historischen Tatsachen hat, der dürfte von diesem Buch ebenso begeistert sein wie ich.