Wenn Wut Flügel verleiht

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Amerika 1955: Landesweit verwandeln sich über eine halbe Million Frauen in Drachen. Die Protagonistin Alex erlebt dies als Kind mit und durch ihre Augen verfolgen wir, wie die Gesellschaft versucht, mit diesem Phänomen umzugehen, indem sie es schlichtweg ignoriert. Angst, Ignoranz und Unterdrückung – und mittendrin ein Mädchen, dem viel zu früh zu viel Verantwortung aufgehalst wird.
Der Schreibstil ist mitreißend und ermöglicht ein schnelles, problemloses eintauchen in die Handlung und ein alternatives 20. Jahrhundert, in dem die Grenze zwischen Magie und Realität verschwimmt. Im Vordergrund steht die Situation der Frauen im Amerika der 1950er und 1960er. Vorbei ist der Krieg, in dem Frauen Männerrollen übernahmen. In der neuen Gegenwart sollen sie Mütter und Hausfrauen sein. Weibliche Wut durchzieht den gesamten Roman, doch der Feminismus bleibt sehr bürgerlich, oberflächlich. Kelly Barnhill beschreibt Alex‘ Gefühl der Einsamkeit, der Ausgegrenztheit von anderen Mädchen sehr anschaulich und berührend, ebenso wie sie negative, unterdrückende Verhaltensweise von ihrer Mutter übernimmt und selbst anwendet. Es ist interessant zu beobachten, wie sie mal den gesellschaftlichen Konventionen folgt und sich dann wieder gegen sie wendet. Alex ist durchaus eine sympathische Figur, doch ich persönlich hätte mir von ihr mehr Eigeninitiative gewünscht. Entweder, dass sie etwas mit ihrer Wut tut oder den Kreislauf ihres Verhaltens selbst durchbricht. Aber ihr Wendepunkt besteht nur darin, dass sie die Hilfe akzeptiert, die ihr wieder und wieder angeboten wurde. Und ja, viele ihrer Probleme wären geringer oder gelöst, wenn sie dies früher getan hätte. Der Zusammenhalt von Frauen ist die große Antwort des Romans und neben Wut befreit die Kernbotschaft, die überdeutlich vermittelt wird.
Viele spannende Aspekte wie die Knotenmagie oder wie genau die neuen, freien Leben der Drachinnen aussehen bleiben vage. Stattdessen bleiben die Drachinnen nach ihrer Wandlung relativ zahm, erst gegen Ende der Handlung wird Potenzial für gesellschaftliche Veränderung angedeutet. Einen seltsamen Beigeschmack hat bei mir der Umstand hinterlassen, dass die amerikanischen Drachinnen sich, ganz wie ihre menschlichen Landsleute, in die Politik anderer Nationen einmischen.
Das Ende kam für mich etwas zu schnell, war aber durchaus stimmig.
Alles in allem eine nette Fantasygeschichte mit leicht feministischem Anstrich, perfekt zum Unterhalten, aber ohne scharfe Zähne.