Gute Frage

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
murksy Avatar

Von

Nun, dieses Buch ist in erster Linie der Versuch, zu ergründen, warum die Franzosen lieben, wie sie lieben. Warum sehen sie einen Seitensprung als deutich weniger verwerflich an, als zum Beispiel die Amerikaner? Dass uns die Medien prägen, ist ein immer häufiger behandeltes Thema. machen Computerspiele aggressiv? Werden Menschen durch Horrorfilme zu Mördern? Und wird eine ganze Nation durch die Literatur geprägt? Reichen Bücher aus, um das Liebes- und Sexualleben über 9 Jahrhunderte zu beeinflussen? Zweifellos führt Literatur dazu, dass sich die Sichtweise der Menschheit verändert. Der Buchdruck hat Menschen die Möglichkeit gegeben, an philosophischen und religiösen Fragen teilzuhaben, wie es zuvor nicht möglich war. Dass zunächst die Bibel der Nutznießer war, ist nebensächlich. Viel wichtiger war der Einfluss der gedruckten Sprache auf die Entwicklung der Menschheit. Im vorliegenden Buch geht es also um die Liebe. Oder wie es der Titel gar darstellt, um die Erfindung der Liebe durch die Franzosen. Kann das sein? Kann ein Land entscheidend für die Art sein, wie die Menschen Liebe und Leidenschaft empfinden und ausleben? Ich denke, dass die Auslegung der Autorin dabei zu weit geht. Gefühle wie Liebe sind komplizierte Vorgänge, hormongesteuert, schwer zu begreifen. Überall wo Menschen aufeinander treffen, wird geliebt. Unterschiedlich ist definitiv die Art, diese Liebe auszuleben oder zu zeigen. Dies mag mit kulturellen oder auch geographischen Gründen (am Nordpol läßt sich schlecht mit hautfreier Mode reizen) zusammenhängen. Sehr wahrscheinlich ist, das Kunst und Kultur Auswirkungen auf unser Verständnis für Liebe, Leidenschaft und Begierde haben. Eine freizügige Darstellung führt dazu, dass manche Verhaltensmuster als normal angesehen werden. So wie in modernen Zeiten Intimrasur eine eher peinliche Kopie der Pornoindustrie ist, mag auch das Werben um den Partner mittels betörender Worte sein Vorbild in den Helden längst vergessener Epen der Literatur finden. Genau dies will das Buch belegen. Mit einer unvollständigen (zwangsläufig) Rezensionssammlung teilweise in Vergessenheit geratener "Bestseller" der französischens Liebesliteratur. Dass Abaelard und Heloise Vorbilder der französischen Freizügigkeit gewesen sein mögen, wohlgemerkt vor 900 Jahren, mag seine Richtigkeit haben. Heutzutage spielt dies keine Rolle mehr. Die Autorin zählt Proust, Sand, Balzac, Flaubert auf, geht kurz auf die Hauptwerke ein und verdeutlicht ihren Standpunkt, dass die Liebe der Franzosen geprägt ist von Galanterie, lebenslanger Attraktivität, aber auch der puren Leidenschaft, die gerne bei diversen Seitensprüngen gesucht wird. Konditionierung durch Literatur, wer ständig liest, dass ein Ehebruch die eigene Sexualität erfüllt, wird dies als Lebensweisheit annehmen. Nun gut, das mag für einige Generationen nach der Veröffentlichung der jeweiligen Bücher zutreffen. Dass allerdings die heutigen Generationen immer noch derart belesen sind, mag ich zu bezweifeln. Auch glaube und hoffe ich nicht, dass moralische Grundsätze derart einfach zu verändern sind. Gewiss hat jede Nation andere kulturelle Ursprünge und Muster. Daraus abzuleiten, dass die Literatur derart prägend ist, oder gar diese spezielle Form der Liebe das non plus ultra sein mag, halte ich für sehr effekthascherisch. Dass die Autorin durch ihren Beruf eine besondere Liebe zur französischen Literatur entwickelt hat, ist verständlich. Doch eine vor allem für die letzten Jahrzehnte sehr oberflächliche Abhandlung läßt am Endes des Tages nur eine Rezensionssammlung übrig, die zwar interessant geschrieben ist, aber weder die Sicht auf die Liebe ändert noch tatsächlich die Frage klärt, ob die Franzosen die Liebe erfunden haben. Denn dazu ist auch die französische Literatur zu vielschichtig und das Thema zu komplex. Wer auf der Suche nach literarischen Empfehlungen ist, einen kleinen Einblick in französisches Leben über die Jahrhunderte haben will, ist mit dem Buch gut bedient. Um wirklich das ganze Gebiet der literarischen Liebe und Leidenschaft abzudecken, kann das Buch nicht ausreichend sein. Und als letzter Hinweis für alle, die möglicherweise nach eindeutigen Textpassagen sind, darauf hat die Autorin erfreulicher Weise verzichtet. Ein Buch für Literaturfreunde, kein Buch für Sozialwissenschaftler.