Zum Wegträumen

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elke seifried Avatar

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Emilia tingelt in Paris so durchs Leben, was sie sich sicher anders vorgestellt hat als sie nach der Schule die Enge auf der Insel nicht mehr ausgehalten und den heimischen Rosenhof auf Usedom, der sich seit Generationen im Besitz der Familie befindet, verlassen hat. Als sie nach einer durchzechten Nacht ein Anruf weckt. «Deine Schwester … Clara hat gestern Abend Lizzy ins Internat gefahren. Auf dem Rückweg hatte sie einen Autounfall. Sie musste mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden …» Die Stimme ihrer Mutter erstarb.“, ist völlig klar, «Ich komme nach Hause.»

Als Leser kommt man mit Emilia in Usedom an und wird dort hart mit der Realität konfrontiert. Clara liegt im künstlichen Koma, die Ehe der Eltern liegt im Argen und schnell stellt sich auch heraus, dass der Rosenhof finanzielle Probleme hat. Wäre das nicht alles schon genug mit dem Emilia zu kämpfen hat, bringt der Hausarzt auch noch eine Patientenverfügung und einen Brief an sie. Wie kommt ihre Schwester nur auf die Schnapsidee, ihr, ausgerechnet ihr, die Kinder Lizzy und Felix anzuvertrauen, denn es gilt, „Ich habe überhaupt keinen Vorbildcharakter! Kannst du dich zum Beispiel noch an die Magen-Darm-Grippe erinnern, die ich kurz vor dem Abi hatte? Das war in Wahrheit eine Flasche Wodka mit Orangensaft. Ich habe während der Ausbildung im Drogeriemarkt dreimal Nagellack geklaut, ich hatte bisher noch keine einzige Beziehung, die länger als ein paar Monate gehalten hat, und jetzt kann ich es ja zugeben: Ich bin es gewesen, die damals den Fisch unter dem Fahrersitz von Klaus’ Protzschlitten versteckt hat. Ganz ehrlich: So jemandem wie mir kannst du doch nicht deine Kinder anvertrauen,“. Deshalb heißt es nun gebannt darauf warten, dass Clara wieder aufwacht, was jedoch so gar nicht den Anschein macht. Als sie in Claras Zimmer einen Brief aus England und darin ein „Das Foto war an mehreren Stellen zerknickt und sah aus, als ob Clara es oft in den Händen gehalten hätte. Sie drehte es um. The Beauty of Claire hatte jemand in die linke obere Ecke geschrieben. Ihr Duft ist berauschend. Die blassblaue Schrift war an einer Stelle zerlaufen. So, als wäre ein Regentropfen daraufgefallen. Oder eine Träne … « , findet, ist schnell die Idee geboren, die Zeit nicht länger mit untätigem Warten zu verbringen, sondern sich gemeinsam mit Lizzy nach Wilsley Green auf die Suche nach ebendieser Rose, die Clara so viel bedeutet haben muss, zu machen, denn «Vielleicht schafft sie es ja, dass Mama schneller gesund wird.». Ob dies gelingen wird, wird natürlich nicht verraten. Nur so viel vielleicht noch, man darf hier eine gefühlvolle Reise in eine Welt der Düfte, betörender Rosen und traumhafter Gärten antreten und dabei nicht nur ein Geheimnis lüften.

Der atmosphärisch, emotionale Schreibstil der Autorin hat mir von der ersten Seite an gut gefallen. Sie beschreibt mit vielen Bildern und Vergleichen. „Selbst wenn Clara in der Erde herumwühlte, schaffte sie es, so auszusehen, als käme sie gerade von der Kosmetikerin. Schweiß und Schmutz schienen an ihr abzuperlen wie Öl an einer teflonbeschichteten Pfanne. Genau wie alle Widrigkeiten des Lebens.“ ist nur ein Beispiel dafür. Ich hatte immer das Gefühl, selbst mit inmitten der Geschichte, den traumhaften Gartenanlagen in England sein zu dürfen, den Duft der Rosen oder auch die salzige Luft von Usedom selbst riechen zu können. Nach England darf man im Jetzt mit Emilia und Lizzy und auch in Rückblenden ins Jahr 2003 mit Clara, die zwischengeschoben nur nach und nach Licht ins Dunkel bringen, reisen, was eine gelungene Prise Spannung verleiht. Bewegende Geheimnisse, die ans Tageslicht kommen, und damit meine ich nicht nur das um die Rose, geben nicht nur Stoff zum Grübeln und Rätseln und fesseln somit ans Buch, sondern machen den Roman auch zu einem emotionalen Unterfangen. Mitten ins Herz getroffen haben mich sicher ganz besonders Lizzys Selbstvorwürfe. Sie gibt sich die Schuld am Unfall, warum wird nicht verraten. Und auch sonst wimmelt es von Szenen, die einen rühren, wie „Es war das einzige Mal in all der Zeit gewesen, dass der kleine Kerl so richtig befreit und aus vollem Hals gelacht hatte … Sein ganzes Gesicht hatte geleuchtet, nur um sich im nächsten Moment wieder zu verdunkeln. «Ich kann doch nicht lachen, wenn es Mama so schlecht geht», hatte er gesagt und angefangen zu weinen.“. Gut gefallen hat mir, dass die Geschichte nicht so von vornherein zu durchschauen ist, das Rätsel um Lizzys Vater, den Clara so vehement verschwiegen hat, z.B. habe ich bisher noch nicht so oft so gelesen.

«Die Rose de Resht zum Beispiel ist eine Damaszenerrose. Damaszenerrosen gibt es schon seit der Antike, und sie duften so intensiv, dass ihre Blüten gerne für die Herstellung von Cremes verwendet werden. Oder hier, diese Zentifolie.» Er zeigte auf eine prallgefüllte rosafarbene Rose. «Sie wird auch hundertblättrige Rose genannt oder Rose der Maler. Sie kommt nämlich aus Holland und wurde schon im sechzehnten Jahrhundert häufig von flämischen und niederländischen Malern abgebildet, in Stillleben und anderen Gemälden. Mein aktueller Favorit aber ist die Souvenir de la Malmaison. Sie wurde schon 1843 gezüchtet. Ihre Blüten bilden perfekt ineinander gefaltete Viertel, das finde ich faszinierend.“, Rosenfreunde werden hier auf jeden Fall ganz besonders glücklich, denn man erfährt unheimlich viel über die Königin der Blumen, was ich äußerst interessant fand und ich denke, dass auch alle anderen Leser die schöne, duftende Auszeit in die traumhaften Rosengärten sicher so richtig genießen können.

„Emilia liebte ihre große Schwester. Wirklich! Aber es war ziemlich anstrengend, mit jemandem zusammenzuwohnen, der nicht nur engelsgleich schön war, sondern auch beliebt, sportlich, klug und in beinahe jeder Hinsicht perfekt. […] Emilia kam es manchmal so vor, als hätten ihre Eltern ihr bestes Erbgut in Clara investiert, und sie musste sich mit dem kümmerlichen Rest zufriedengeben: mit stinknormalem braunem Haar, einer Nase, dick und unförmig wie eine Sellerieknolle, und Noten, die genauso durchschnittlich waren wie der Rest von ihr.“ Emilia, die stets im Schatten ihrer Schwester gestanden hat, war mir sofort sympathisch, ich konnte mich stets gut in sie hineinversetzen und ich habe mich sehr gerne mit ihr auf diese Reise begeben. Besonders authentisch sind die Kinder gezeichnet, sowohl Felix, der eine kleinere Rolle spielt, aber zu rühren vermag, als auch Lizzy, der Teenager mit den Selbstzweifeln und offenen Fragen, den man ins Herz schließen muss. Josh, Claras bester Freund und die Jugendliebe von Emilia, aus der nicht mehr als ein Kuss geworden ist, passt so geheimnisumwoben genauso perfekt in die Geschichte, wie Lizzys Vater.

Alles in allem bekommt dieser Wohlfühlroman zum Wegträumen von mit auf jeden Fall noch fünf Sterne.