Komödie der Irrungen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
marionhh Avatar

Von

Willkommen auf Skios von Michael Frayn, Gebundene Ausgabe: 288 Seiten, Carl Hanser Verlag, 30. Juli 2012

Komödie der Irrungen

Skios, eine kleine Sonnen beschienene griechische Insel, ist Schauplatz diverser Ereignisse, deren Verwicklungen und Wendungen sich bald jeglicher Kontrolle der Protagonisten entziehen und in einem sehr skurrilen Finale kumulieren.

Auf der griechischen Ferieninsel Skios findet die alljährliche Großveranstaltung einer amerikanischen Stiftung statt, deren Organisation in der Hand von Kontrollfreak Nikki liegt. Sie hat alles fest im Griff und muss nur noch den sehnsüchtig erwarteten Gastredner, Dr. Norman Wilfred, vom Flughafen abholen. Mit einem freundlichen und unverbindlichen Lächeln und perfekt gestylt nimmt sie einen netten jungen Mann in Empfang, nur leider ist es nicht Dr. Wilfred, sondern Oliver Fox, der sich eigentlich mit seiner Geliebten Georgie treffen wollte. Übersättigt von seinem flatterhaften Leben, lässt er es zu, dass Nikki ihn für Dr. Wilfred hält, und findet Gefallen an der Aufmerksamkeit und dem Respekt, der ihm in seiner Rolle entgegenschlägt.

Im gleichen Flugzeug sitzt auch der echte Dr. Wilfred, der sich ebenfalls nach dem Sinn seines Lebens fragt. Er landet in dem für Oliver vorgesehen Domizil und richtet sich häuslich ein in der Annahme, in einer Unterkunft der Stiftung gelandet zu sein. Georgie reist einen Tag später an, und nach einigen Anfangsschwierigkeiten kommuniziert man zivilisiert miteinander. Georgie überredet Dr. Wilfred, sich doch zur Stiftung zu begeben und seinen Vortrag zu halten. Mit ihrer eigenen Ruhe ist es jedoch vorbei, also auch noch Olivers Freundin Annuka auftaucht und mächtig Wirbel macht. Georgie flüchtet in Annukas Taxi und fährt zur Stiftung, derweil Annuka auf den „heimgekehrten“ Dr. Wilfred trifft. Die beiden verbrüdern sich und fahren ebenfalls zur Stiftung mit der Absicht, Oliver für seinen mehrfachen Betrug eins auszuwischen. Zwischen all diesen Verwechslungen und Missverständnissen versucht Nikki zu retten was zu retten ist, machen Gäste und Stiftungsmitglieder dubiose Geschäfte, werden Koffer vertauscht und weggeworfen, verschwinden Menschen in der Versenkung und erhebt sich der Stiftungsdirektor von seinem Gebetsteppich, und wieso gehen eigentlich Mobiltelefone nie, wenn man sie braucht?

Im großen Finale sind dann alle vereint, selbst Georgies Lebensgefährte Patrick taucht auf, spielt aber keine größere Rolle. Interessant ist, dass Frayn uns zunächst ein Szenario vorstellt, wie in etwa das erwartete Ende aussehen könnte. Sprachlich originellerweise als Aufzählung dargestellt, was die Absurdität noch steigert. Aber wie im richtigen Leben kommt 1. alles anders und 2. als man denkt. Ausgelöst durch eine winzige unvorhersehbare Kleinigkeit, wie der berühmte Schmetterling, der im brasilianischen Regenwald durch seinen Flügelschlag einen Wirbelsturm auslöst („Chaostheorie“), wird hier durch den Scheich, der eine Süßigkeit vom Teller nimmt, eine Kausalkette in Gang gesetzt und die Ereignisse komplett verändert. Der Showdown endet im kompletten Chaos: Sicherheitskräfte schießen um sich, es gibt Tote und Verletzte, die zu schmuggelnde Statue „entwischt“ und dient einem Dichter als Inspiration, Annuka und Dr. Wilfred werden verhaftet, der „Schuldige“ Oliver entschwindet unbehelligt. Gewinner gibt es eigentlich keine, lediglich Oliver tritt unverändert aus dem Chaos hervor, und auch für Nikki und Georgie hält sich der Schaden in Grenzen.

Michael Frayn versteht es meisterhaft, dieses komplexe Gebilde aus Beziehungen und Verwechslungen zu beschreiben. So kompliziert die Ereignisse sind, er hat immer die Kontrolle über seine Figuren und lässt sie auf verschlungenen Pfaden wandeln und über ihr Leben sinnieren. Philosophisch, humorvoll, rasant ist seine Sprache, sie ruft Gelächter, weitaus öfter jedoch ein Schmunzeln hervor. Wie in einer echten Verwechslungskomödie fragt man nicht nach dem Sinn, nach dem „wie konnte das passieren“, es passiert einfach und es ist völlig logisch. Die Frage nach der Schuld stellt sich eigentlich nicht, dennoch fragt man sich, woran es liegt, dass alles so aus dem Ruder läuft. Lässt sich wirklich alles zurückverfolgen auf ein winziges Teilchen, das vor 13,7 Milliarden Jahren einmal existiert hat und der Ursprung von allem ist? Ist der Esel auf dem Cover derjenige welche, den Oliver zu Annuka angeschleppt hat? Vielleicht sind ja die zwillingshaften griechischen Taxifahrer Spiros und Stavros an allem schuld, sie fahren schließlich die Personen an die Orte, an die sie gar nicht wollen.

Zwei Wahrheiten fallen jedoch auf: Es ist 1. alles eine Frage des Glaubens und 2. der Kommunikation. Die Menschen glauben das, was sie wollen, und nicht mal die Wahrheit kann sie davon abhalten. Oliver ist der wahre Dr. Wilfred und damit basta. Oliver selbst ist ein Meister der Vorspiegelung falscher Tatsachen, ohne dabei je die Unwahrheit zu sagen. Er ist kein oberflächlicher Charakter und macht sich durchaus Gedanken über den Sinn seines Lebens, über seine Mitmenschen und seine Umwelt, er wird auch philosophisch dabei, wie fast alle Darsteller in Frayns Komödie der Irrungen. Vielleicht ist der einzig Reelle Mr. Clopper; er hält von Anfang an alles für Unfug. Nicht nur einmal stellt Oliver klar, wer er ist, doch keiner glaubt oder versteht ihn. Und so spielt er seine Rolle und versucht allen zu gefallen, das ist das einzige, das er kann. Man hat das Gefühl, dass er nicht Herr seiner Entscheidungen ist und den Dingen einfach seinen Lauf lässt.

Dr. Wilfred hingegen denkt zuviel. Durch und durch Wissenschaftler, mit analytischem und logischem Verstand, sehr kontrolliert, ist er Doktor einer komplizierten Fachrichtung, der Szientometrie, dem „Messen der Wissenschaft“. Wie kann man Wissenschaft messen, fragt sich der Laie, macht das überhaupt Sinn? Dr. Wilfred hinterfragt diesen Sinn in dem Maße wie er Gefallen an der unkonventionellen Lebensweise findet, die er mit Georgie erlebt. Der kurze Ausflug in die „wahre Welt der Stiftung“ gerät eher traumatisch, niemand glaubt ihm, und so kehrt er lieber in das inzwischen vertraute Domizil zurück. Nur dass er da nicht mehr Georgie, sondern Annuka vorfindet, die von „in den Tag hinein leben“ so gar nichts hält. Ohne Koffer und ohne Handy ist sein Vortrag seine einzige Konstante, an die er sich klammert. Nur durch ihn ist und bleibt er Dr. Wilfred. Als Symbol seiner Sinnkrise stellt er jedoch selbst diesen in Zweifel. Wieso? Worüber definieren wir uns? Kann ich aus meinem Leben einfach ausbrechen, es verändern, bin ich nicht meines eigenen Glückes Schmied?

Fazit: Michael Frayn entwirft ein komplexes Geschichtsgebilde und lässt seine Hauptdarsteller von einem Fettnapf und von einer Katastrophe in die nächste stolpern. Sie haben keine Kontrolle über ihre Handlungen, werden von Ereignissen überrollt und reagieren nur. Wenn sie jedoch aktiv werden – wie z.B. Annuka oder Dr. Wilfred – geht alles noch mehr schief als ohnehin schon. Ausgelöst durch kleine Details in Bruchteilen von Sekunden, werden Ereignisse in Gang gesetzt, die das „Ergebnis“ komplett verändern. Menschen, die Ordnung schaffen wollen, wie Nikki und ganz zum Schluss auch Mrs. Toppler, die in all dem Chaos wie geplant die Abschlussrede hält, scheitern kläglich und machen sich nur lächerlich. Der Leser folgt atemlos den Ereignissen und erwartet mit Spannung das Ende, das ihn dann doch völlig unvorbereitet trifft. Gleichzeitig wird man durchaus zur Selbstreflexion angeregt; in dem Maße wie die Figuren über sich und ihre Identität nachdenken, hinterfragt man das eigene Dasein und die Sinnhaftigkeit des Ganzen, und mehr als einmal fragt man sich, wie man selbst in der Situation reagiert hätte.

Wer eine leichte lockerflockige Sommerkomödie erwartet, wird enttäuscht werden – auch wenn sich die Geschichte so anlässt, entwickelt sie sich doch ganz anders als erwartet und wird am Ende ironisiert. Ein „Happy End“ sieht anders aus, und dieses Ende hier ist nichts für Romantiker. Trotzdem ist es wahres Lesevergnügen, Frayns Sprache, Geist und Witz vermögen zu fesseln und zu faszinieren, und der Spiegel, den er der Gesellschaft (und damit auch uns) vorhält, machen die ganze Oberflächlichkeit und Ignoranz deutlich.