Ein Herzensbuch

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fraedherike Avatar

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„Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen. Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen, und dann alles anders machen." (S. 207)

Niemals wird Ida den Tag vergessen, als sie sie fand, die letzten Worte, die sie ihr an den Kopf warf, ihre Wut. Seit zwei Monaten war ihre Mutter tot, und sie alleine mit ihrer Trauer, der Scham, den Erinnerungen. Das einzige, was ihr hilft, ist Schreien, denn ihre Finger haben verlernt zu schreiben, haben sie der einzigen Sprache beraubt, die es vermochte, sie dem Alltag entfliehen zu lassen. Sie muss raus, weg aus der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.

„In mir tobt ein Sturm, ein Orkan, ein Tornado, der alle Fragen aufwirbelt, die ich immer im Boden zertrete, wenn sie auftauchen.“

Sie steht am Strand und starrt auf die Wellen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wohin sie fahren sollte, wollte nur weg, wollte Abstand gewinnen, strandet auf Rügen. Ein Meer zwischen sich und allem, was war, allem, was ist. Am liebsten wäre sie direkt in die Wellen gesprungen, doch die Angst, dass jemand ihren Koffer und ihren Laptop klauen könnte, überwiegt; dann hätte sie gar nichts mehr auf dieser Welt. Ida streift über die Insel, ihr Handy auf Flugmodus, ihre Gedanken in den Wolken, bis sie Knut kennenlernt, den Besitzer der Inselkneipe „Zur Robbe“. Eins führt zum Anderen, und statt im Viererzimmer in der Jugendherberge wacht Ida mit dem Duft frischen Brotes in der Nase auf, das Marianne, Knuts Frau, jeden Morgen backt. Tagsüber spielen sie Karten, spazieren durch den Wald und essen Botinchen, abends hilft Ida Knut in der „Robbe“. Die Tage vergehen, und die Routine und Geborgenheit lassen Ida atmen, doch der Knoten in ihrer Brust schmerzt noch immer. Und dann lernt sie Leif kennen, und alles fühlt sich ein bisschen erträglich an. Doch es dauert nicht lange, bis es wieder wehtut.

„Ich dachte, wenn ich weit weg bin, dann sind die Gedanken leiser. Aber sie sind laut, und sie tun weh.“

Diese ersten Seiten, sie taten weh; all den Schmerz zu spüren, der sich unaufhörlich in Ida aufbaut, ihre Verlorenheit, alles, was ihr etwas bedeutete, ihre Träume, zu verlieren, und schließlich: ihre Kapitulation. Es sind ein paar Jahre vergangen zwischen dem Punkt, an dem „22 Bahnen“, der Debütroman von Caroline Wahl, endet und Idas Geschichte, „Windstärke 17“, beginnt, doch der Sound ist derselbe: melancholische Schwere meets lakonisch freche Dialoge und poetische Wortspielerei plus ein bisschen Liebes- und Lebenskummer. Ohne Kitsch, teilweise vielleicht ein bisschen zu pathetisch, ein bisschen wishful thinking - aber brauchen wir das nicht alle mal?

Je weiter Ida sich von ihrer Heimatstadt entfernt, von den Erinnerungen, die ständigen Nachfragen ihrer Schwester und ihrer besten Freundin Samara über den Flugmodus ausgeschaltet, desto mehr weichen die grauen Donnerwolken zärtlichen Wolkenschlieren, die ab und an sogar ein wenig Sonne hindurchlassen: Sie findet bei Marianne und Knut den Halt, den sie nach dem Tod ihrer Mutter so dringend braucht, findet Ablenkung, Fürsorge und eine Routine, und sie lernt, wieder auf ihre Stärken zu vertrauen, an sich und ihre Wünsche zu glauben. Und gleichermaßen gibt sie den beiden durch ihre Anwesenheit, ihre Suche um Wärme eben auch das zurück.

Wärme findet Ida auch bei Leif, dem Enkel von Knut und Marianne, aber es wäre zu einfach, liefen sie einfach Hand in Hand in den Sonnenuntergang, fair enough, stattdessen sind da: Sehnsucht, Unbeständigkeit und wieder: Angst. Ich mochte die klugen, atemlosen Dialoge zwischen den beiden sehr, auch wenn mich Idas teilweise Gen Z-ige Art manchmal ein bisschen genervt hat - da merk’ ich dann doch, dass ich nicht mehr achtzehn bin. Aber Leif, der hat’s auf meine Book Boyfriend-Liste geschafft; ebenso wie all die neuen Facetten, die Ida zu einer so besonderen Protagonistin machen - die mir auch viel lieber ist als Tilda, herrje -, ist auch Leif mit all seinen Licht- und Schattenpunkten toll gezeichnet. Der Verlauf des Plots, ja gut, der war teils durchaus erwartbar, auch wenn Idas Beziehung zu Leif keine klischierte High School-Romance ist, wie sie sagt, aber ich hab’s einfach gefühlt. Gefühlt, gemocht, gelacht und geweint.