Ein würdiger Nachfolger von „22 Bahnen“
Windstärke 17 von Caroline Wahl
„In mir tobt ein Sturm, ein Orkan, ein Tornado, der alle Fragen aufwirbelt, die ich immer im Boden zertrete, wenn sie auftauchen.“
„Weg! Bloß weg!“, das denkt sich Ida, packt kurzerhand den alten Hartschalenkoffer ihrer Mutter und haut ab. Bloß raus aus dieser Wohnung, in der sie alles an ihre verstorbene Mutter erinnert.
Zwei Monate ist die Beerdigung schon her, aber Ida hat es noch nicht geschafft zum Grab ihrer Mutter zu gehen. Der Beerdigung blieb sie ganz fern, zu tief sitzt die Trauer über den Verlust. Und gleichzeitig ist da dieser Wutklumpen in ihrem Bauch.
Ida ist mittlerweile Anfang 20 und lebte die letzten Jahre allein mit ihrer Mutter in der kleinen Wohnung. Tilda, ihre ältere Schwester, hat ihre eigene Familie gegründet, mit der sie in Hamburg wohnt.
Hals über Kopf rennt Ida zum Bahnhof und steigt in den nächsten Zug Richtung Norden. Eigentlich hatte sie vor, zu Tilda nach Hamburg zu fahren. Doch dann entscheidet sich Ida um und strandet auf der Ostseeinsel Rügen - weit weg von zu Hause, dem Grab ihrer Mutter und Tilda, die sich immerzu Sorgen macht.
Auf Rügen beginnt die wohl emotionalste Reise Idas, die immer solch eine starke Sehnsucht nach dem Meer hatte. Doch am Meer angekommen, bemerkt Ida, dass der Wutklumpen in ihrem Bauch immer noch das ist, genauso wie die Einsamkeit und diese scheiss Angst. Der tiefe Schmerz in ihr - ausgelöst durch ihre schwere Kindheit als Kind einer suchterkrankten Mutter und eines abwesenden Vaters - wird mehr und mehr zu einem tosenden Sturm in ihr. Diese überbordenden Gefühle vor allem aber die Schuldgefühle gegenüber ihrer verstorbenen Mutter drohen Ida fast zu zerbrechen.
„Ich hasse mich, ich hasse sie, und ich hasse alles. Sie wusste, als sie an diesem frühlingshaften Dienstag an meine Tür klopfte, dass sie gehen wird, und ich wusste es irgendwie auch. Und ich habe sie gehen lassen.“
„Windstärke 17“ ist der zweite Roman von Caroline Wahl und knüpft 10 Jahre nach dem Ende ihres Debüts „22 Bahnen“ an, das im April 2023 auch im DuMont Verlag veröffentlicht wurde.
In ihrem neuesten Werk steht Ida, die jüngere der beiden Schwestern, im Zentrum der Geschichte. Caroline Wahl erzählt von Idas Reise nach Rügen, die nicht nur eine Flucht darstellt, sondern wohl auch eine Reise zu ihrem tiefsten Inneren, vor dem sie so große Angst hat. All die über Jahre angestauten Gefühle und traumatischen Bilder ihrer Kindheit treten nach dem Tod der Mutter ungefiltert an die Oberfläche. Ida dabei zuzusehen tut weh. Aber Ida kämpft: Mit sich, gegen sich selbst, gegen das Außen und ihre Vergangenheit. Diese tiefe Zerrissenheit, ihre Trauer, Wut und Scham stellt Caroline Wahl wirklich eindrücklich dar. Durch die Ich-Erzählerinnenperspektive sind wir dazu ganz nah dran an Idas Gefühlen und Gedanken.
Ihrer direkten, unverblümten Sprache und dem typischen, nahezu unverwechselbaren Caroline-Wahl-Sound bleibt die Autorin auch in ihrem zweiten Buch treu. Die Geschichte handelt zwar von eher schweren Themen, trotzdem gelingt es Caroline Wahl mit ihrem unkonventionellen Stil, Idas sarkastischem Humor und einem Augenzwinkern eine gewisse Leichtigkeit zwischen den Zeilen zu vermitteln, so dass ich nur so durch die Seiten geflogen bin.
Nicht unerwähnt möchte ich Marianne und Knut lassen, das Ehepaar, das Ida liebevoll bei sich zu Hause aufnimmt und wie eine eigene Tochter umsorgt. Der heimliche Star dieses Romans ist aber wohl die wunderschöne Insel Rügen und das Meer. Dass ich es liebe, hier zu leben, muss ich euch wohl nicht mehr erzählen, oder?
Ich vermute stark, dass es noch einen weiteren Band geben wird - dann vielleicht mit Idas und Tildas Mutter als Hauptfigur..!?
Ein packender Coming-of-Age-Roman und ein Muss für alle Fans von „22 Bahnen“!