Wie lange kann man mit einem Wutklumpen im Bauch leben?

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Caroline Wahl – Windstärke 17 (erscheint am 15. Mai 2024)

„Ich brülle in den Wind: ‚Hätte ich mehr tun müssen?‘, und der Wind jault etwas wie ‚Ja‘ zurück, aber vielleicht ist er auch nur sauer, weil ich ihn die ganze Zeit so wild beleidige.“ (45)

Ida, eine junge Frau Anfang 20, findet ihre Mutter tot auf – ein Suizid durch Überdosis. Einen Vater hat Ida nicht und ihre Schwester Tilda mit ihrem perfekten Leben in Hamburg kann Ida gerade nicht ertragen. Also stellt sie ihr Handy auf Flugmodus, setzt sich in irgendeinen Zug – Hauptsache weg – und landet schließlich auf Rügen.

„Ich weiß, dass in mir alles kaputt ist und bald explodiert.“ (86)

Ihre Wut, die Trauer über den Verlust und die Gewissensbisse wegen der vermeintlichen Mitschuld am Tod der Mutter begleiten sie auf die Insel. In zahlreichen Rückblicken erfahren die Lesenden von Idas Aufwachsen mit einer alkoholkranken Mutter und vom Zwiespalt, mit dem Ida ihr Leben lang kämpfte – das eigene Leben leben oder sich um die kranke Mutter kümmern? Auf Rügen lernt sie Knut und Marianne kennen, die Ida bei sich aufnehmen und ihr ganz ungefragt ein Zuhause und einen Ort zum Heilen bieten. Und dann ist da auch noch Leif, der Ida bald auf ganz andere Gedanken bringt. Doch auch dieses neue Leben meint es nicht gut mit Ida, denn der nächste Schicksalsschlag lässt nicht lange auf sich warten…

„Leuchttürme leiten Seefahrer durch das Wasser und warnen vor Gefahren, meinte Leif. Ich hätte auch gern einen Leuchtturm. ‚Hier nicht lang, Ida. Nein. Gefahr. Untiefe. Stopp.‘ Aber wahrscheinlich würde ich sogar einen Leuchtturm ignorieren.“ (233)

Die Figur der Ida ist zwar erst einmal nicht typisch sympathisch – sie ist vor allem anfangs anderen gegenüber eher abweisend, reagiert kühl oder schnippisch, sie lügt manchmal und tut irrationale Dinge – und doch fühlt man jeden Moment mit ihr. Und auch die herzliche Marianne und ihren Mann den Kneipenbesitzer Knut schließt man schnell ins Herz. Leif dagegen bleibt eine ganze Weile undurchschaubar und zeigt sowohl dunkle als auch liebenswürdige Seiten. Ich finde die Figurenkonstellation damit durchweg gelungen und authentisch. Besonders schön ist auch das Setting auf der Ostseeinsel Rügen, auf der wir mit Ida sowohl stürmische und regnerische als auch warme, sommerliche Tage erleben. Das wilde, aufbrausende Meer, das auch auf dem wunderschönen Cover des Romans abgebildet ist, steht in perfektem Einklang mit Idas innerem Kampf und lässt sie zugleich Abstand von ihrem eigenen Schicksal gewinnen.

„Das Meer, das so krass wunderschön und gewaltig ist, zeigt mir, dass ich mit meinen Nichtigkeiten ganz klein und egal bin. Bedeutungslos.“ (116)

Auch der sehr besondere Schreibstil der Autorin, diese Sprache, die von kurzen Sätzen, vielen Dialogen und Wiederholungen geprägt ist, hat mir sehr gefallen. Sie unterstreicht die innere Leere und die Planlosigkeit, die Ida so oft begleiten, ist aber häufig auch sehr witzig, obwohl es meistens um ernste Themen geht. Die Stimmung des Romans ist wie das Wetter auf Rügen – unbeständig und immer am Kippen zwischen sommerlich-romantisch-leicht und düster, kalt und ernst. Denn neben dem Umgang mit der Wut und der Trauer über die Schicksalsschläge erzählt der Roman auch eine wirklich schöne Geschichte über Liebe, Freundschaft und Idas Entwicklung zur Autorin. Ich wollte das Buch gar nicht aus der Hand legen und würde wahnsinnig gern eine Fortsetzung lesen.

Im Übrigen handelt es sich bei Windstärke 17 um eine Fortsetzung von 22 Bahnen, welches ich jedoch nicht gelesen habe. Beide Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.

Ein echtes Lesehighlight, dass ich jedem und jeder nur ans Herz legen kann!