Die Kamera war das Versprechen einer besseren Welt. Und nun ist sie kaputt.

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Das Leben in den 20-er Jahren war nicht einfach in Deutschland. Der vorangegangene Erste Weltkrieg hat nicht nur Materielles in den Städten zerstört. Auch die Menschen haben sich seelisch davon noch nicht erholt. Vielfach bilden sich Gruppen, die gegen die aktuell regierende Politik Stresemanns protestieren. In der Weimarer Republik wechselten die Machthaber öfter als für ein geschundenes Land gut war. Vor dieser Kulisse schildert Johanna Friedrich das Leben des jungen Paares Albert und Charlotte Berglas. Die beiden bewohnen eine kleine Wohnung in der Winterfeldtstraße in Berlin. Auf den Straßen dominieren Armut und Gewalt. Oft schauen auch die Wachtmeister tatenlos zu. Als Alberts Leiche aus dem Landwehrkanal geborgen wird, wird der Fall schnell als Suizid zu den Akten gelegt. Nur Charlotte ist überzeugt, dass ihr Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Was hier wie ein Krimi klingt, dient aber nur der Erklärung, warum sich die junge Fotografin an der Existenzgrenze bewegt. Vielmehr wird hier ein Gesellschaftsporträt gezeichnet.

Das Romandebüt wird in den ersten drei Kapiteln mit seinen Figuren und Umgebungen gut angelegt und verspricht einen spannenden Roman aus den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Leider kann sich diese Spannung nicht dauerhaft über die etwas mehr als 400 Seiten halten. Charlottes jahrelange Trauer steht ihrer Entwicklung allzu lange im Weg, um als Leser neugierig zu bleiben. Die drei Untermieter dagegen sind sorgfältig mit ihren Gesinnungen gewählt und spiegeln die Sicht der Gesellschaft bildhaft wider. Kleinkriminelle wie Gustav verdingten sich in zwielichtigen Kaschemmen mit Pokerspielen in rüder Gesellschaft. Hier treffen die neugeformten Gruppen der Kommunisten auf die Sozialisten und Nationalsozialisten. Nicht nur die steigende Arbeitslosigkeit und die unaufhaltbare Geldentwertung lassen die Gewalt eskalieren. In einer Welt, in der Devisen sind mehr Wert sind als die eigene Währung, in der mit Ware statt Geld gehandelt wird, ist jeder sich selbst am nächsten. Von daher ist der Schauplatz in der großen Wohnung gut gewählt. Sie sichert Charlotte ein Einkommen, ein Dach über dem Kopf und man kann als Leser die Figuren genau unter die Lupe nehmen.

Die Verstrickungen in emotionaler Hinsicht lassen die Schilderungen des Historischen lebendiger wirken. Blickt man aus dem Fenster, kann man die Katastrophe ahnen, setzt man sich zurück an den Küchentisch, scheinen die Handlungen alltäglich. Der „Lange“ Heinrich hat sich sofort in Charlotte verliebt und unterstützt sie nach der Geburt ihrer Tochter, wo er nur kann. Die Dankbarkeit missinterpretiert er leider und es entsteht eine einseitige Liebesbeziehung, die für Charlotte gefährlich wird. Ein weiteres Zimmer hat sie an den undurchschaubaren Theo vermietet. Wie sich herausstellt, lebt er unter falscher Identität und trägt eine Pistole. Theo verkörpert die Schwierigkeiten, die seinerzeit Juden in Deutschland hatten. Auch eine alternde Bardame zieht in die zusammengewürfelte Wohngemeinschaft. Somit bringt die Autorin auf engstem Raum die vielschichtige Gesellschaft der damaligen Zeit unter. Mit ihrem flüssigen Erzählstil kaschiert sie auch das oben erwähnte Manko. Sie lässt die Wohnungen und Hinterhöfe mitsamt Gestank und Armut aufleben. Das Treiben in der Winterfeldtstraße wird damit zum vielversprechenden Erstling.