Großartiger 2. Fall für den Münchner Kommissär Reitmeyer

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marionhh Avatar

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München, 1920: Sebastian Reitmeyer, Kommissär bei der Münchner Kriminalpolizei, ist traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg in seinen alten Posten zurückgekehrt. Er trifft auf hungernde Menschen, bettelnde Flüchtlinge und eine sich ausbreitende politisch rechte, antisemitische Szene, die immer mächtiger wird. Während Reitmeyer sich mit Einbruchsdelikten, Diebstählen und im Zuge dessen auch mit Körperverletzung und Totschlag beschäftigt und gegen seine immer wieder auftretenden Panikattacken kämpft, muss er feststellen, dass gewisse Leute von oberster Stelle geschützt werden. Dann wird eine junge Frau aufgefunden, die durch eine Heroinspritze getötet wurde. Angeblich Schauspielerin, bewegte sie sich in zwielichtigen Kreisen. Reitmeyer hängt sich mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit in den Fall hinein und dringt immer tiefer in einen undurchdringlichen Sumpf aus Mach, Korruption und Gewalt. Da stirbt erneut eine junge Frau aus dem Milieu und eine weitere wird bedroht. Mit seinem Team, Kriminalassistent Steiger und Polizeischüler Rattler, und mit der Hilfe seiner besten Freunde, dem Rechtsanwalt Sepp Leitner und der Ärztin Caroline von Dohmberg, versucht Reitmeyer Licht ins Dunkle zu bringen und wird dabei von seinen Oberen mehr als einmal ausgebremst…

Zweiter Fall für den Münchner Kommissär Sebastian Reitmeyer, der mir bereits nach dem ersten Band „Der eiserne Sommer“ sehr ans Herz gewachsen ist. Der zweite steht diesem weder sprachlich noch atmosphärisch in nichts nach. Zeitlich liegen die beiden sechs Jahre auseinander, nämlich die Zeit des Ersten Weltkrieges und die Rückkehr aus der Gefangenschaft, und all dies hat deutlich Spuren beim Kommissär hinterlassen. Die Autorin erzählt erneut authentisch und historisch detailliert, sie spart weder an der Beschreibung von Hunger und Elend, von Panikattacken und Zweifeln, von Abgründen und Skrupellosigkeit, und findet dabei eine gekonnte Mischung zwischen Sachlichkeit und Emotionalität. Die Charaktere und Situationen sind realistisch, die unterschiedlichen Milieus und Lebenssituationen zeugen von fundiertem Hintergrundwissen. Als Leser habe ich immer das Gefühl, mittendrin zu sein, und habe mehr als einmal den Geruch von Kohlsuppe und schimmeligen Kellerlöchern in der Nase. Nicht zu vergessen, dass dies auch noch ein sehr spannender Kriminalfall ist, bei dem man einmal mehr tiefe Einblicke sowohl in das Leben der Oberschicht als auch in das der Arbeiterklasse, in der bitterste Armut herrscht, erhält. So trifft Reitmeyer wieder einmal auf Prostitution und Pornografie und auf Abgründe, die sich hinter vermeintlich gutbürgerlicher Fassade auftun, und muss bei seinen Ermittlungen Menschen der unterschiedlichsten Couleur befragen. Das erfordert höchstes Fingerspitzengefühl.

Zusätzlich zum ersten Band kommt nun auch noch die immer stärker werdende Bedrohung der Rechten hinzu. Die gerade in München neu gegründete NSDAP findet immer mehr Anhänger, Hitler gilt als überzeugender Redner, dessen antisemitische Tiraden bereits jetzt die Angst unter Juden und Andersdenkenden schüren. Auch Reitmeyers Dienststelle ist bereits infiltriert, und so kommt es häufig zu Interessenskonflikten mit seinen Oberen. Interessant fand ich zudem den historischen Aspekt der heimlichen Waffenlager, mit dem sich die Deutschen gegen die von den Siegermächten aufoktroyierte Entwaffnung wehrten. Mit Billigung des Militärs und des Staates wurden heimliche Waffenlager angelegt, der Versuch diese aufzudecken galt als Landesverrat, und Verräter wurden gelyncht. Dieser Aspekt und auch der des aufkeimenden Antisemitismus spielen eine wichtige Rolle in Reitmeyers Fall.

Reitmeyer ist nach wie vor eine faszinierende Persönlichkeit. Durch seine Kriegserlebnisse ist sein Charakter sicherlich nicht einfacher geworden, und im Umgang ist er mitunter störrisch und schwankt zwischen Zurückhaltung und Aufbrausen, doch noch immer hat er ein fanatisches Gerechtigkeitsempfinden und will unter allen Umständen die Wahrheit herausfinden. Seine Panikattacken sieht er als Schwäche an, er verbirgt sie vor seinen Mitmenschen. Seinen analytischen Verstand und seine Musikalität hat er jedoch nicht verloren, und beides hilft ihm in schwierigen Situationen. Natürlich trifft man auch weitere altbekannte, geliebte und weniger geliebte, Charaktere, wie Sepp und Caroline oder Reitmeyers Chef Klotz. Aber auch die neuen Charaktere wie der der Gerti Blumfeld sind gut herausgearbeitet und vielschichtig. Obwohl speziell sie mir mit ihrer manchmal unglaublichen Naivität und Arroganz phasenweise auf die Nerven ging, so lebt man doch mit ihr mit und wünscht ihr, dass sich für sie alles positiv entwickelt. Die Autorin webt geschickt mehrere Fäden parallel und fügt die Handlungsstränge schließlich aufs Feinste zusammen. Hier bleibt sie ihrer Linie treu, indem sie die Geschichte abwechselnd aus der Sicht Reitmeyers und Gertis erzählt, besitzt der Leser einen Wissensvorsprung gegenüber Reitmeyer, erlebt das Geschehen dadurch intensiv mit und zittert förmlich bis zum Ende. Auch hier enthält ein potentieller Wissensträger, in dem Fall Gerti, Reitmeyer Informationen vor, auch hier wird wieder in verschiedenen Gesellschaftsschichten ermittelt. Natürlich ermittelt man selbst wieder fleißig mit und möchte Gerti mehr als einmal schütteln, sich doch dem wohlmeinenden Reitmeyer anzuvertrauen. Gemessen an den Umständen ist es denn auch ein zufriedenstellendes Ende, und Reitmeyer erfährt zudem eine seelische Wandlung, indem er sich Caroline anvertrauen kann und so mit seinen Panikattacken umzugehen lernt.

Fazit: Großartiger zweiter Fall für Reitmeyer, ein echter Pageturner und für alle, die den ersten Band mochten, ein Muss! Historisches Interesse ist von Vorteil, der Roman ist sehr fundiert und so dicht gepackt mit Information, dass ein schnelles Herunterlesen schlichtweg nicht möglich ist, aber auch schade wäre, denn dann würde einem einige Details entgehen. Obwohl es ein Krimi ist, könnte ich diesen auch ein zweites Mal lesen, er wäre genauso spannend. Nicht nur ein komplexer Fall, sondern auch ein guter Einblick in die Lebensumstände und die politische Situation in Deutschland in der Zeit zwischen zwei Weltkriegen. Bitte mehr davon!