Die Revolution frisst ihre Kinder

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marapaya Avatar

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Russland ist für mich das fiktive Land von Anna Karenina, Krieg und Frieden, Doktor Schiwago und Schuld und Sühne. Mit Tolstoj habe ich eine Literatur entdeckt, die mich für alle weiteren Leseerlebnisse prägte, die für mich bis heute Maßstäbe bildet. Das reale Russland löst in mir ein mulmiges Gefühl hervor, russophil wie Owen Matthews Vater bin ich bei weitem nicht. Die aktuellen Entwicklungen auf der Krim, Russlands Rolle darin rufen in mir literarische Erinnerungen an apokalyptische Science Fiction Märchen hervor, die unserer Zukunft nichts Gutes verheißen wollen. Meine historischen Kenntnisse über Russland gehen bis zur Revolution unter Lenin im Jahr 1917, danach kommt noch ein bisschen Allgemeinwissen über den Zweiten Weltkrieg und dann fiel bei mir der Eiserne Vorhang – bis heute. Schockiert habe ich in meinen Jugendtagen eine historische Pseudodokumentation über die letzten Tage der Romanows gesehen und bin kaum darüber hinweg gekommen, dass die Familie ausgerechnet an dem Tag ausgelöscht wurde, der Jahrzehnte später zu meinem Geburtstag werden sollte.
Owen Matthews wunderbares Buch über die Geschichte seiner Eltern und damit auch über Russland, dessen nahe Historie mit Einblicken in die russische Seele ließ mich den ichbezogenen Kummer über den Todestag der Romanows schnell vergessen, wie viel mehr Elend mussten Millionen von Menschen in ihrem eigenen Land über Jahre und Jahrzehnte ertragen! Tief erschüttert hat mich Matthews mit der nüchternen Darstellung über das kurze Leben seines russischen Großvaters, den Folgen für seine Familie und den grausamen russischen Alltag dieser Tage. Erst als Held des Kommunismus gefeiert, wurde Boris Bibikow unter dem Einfluss von Stalins Paranoia verhaftet und heimlich hingerichtet. Seine Frau, also Owen Matthews Großmutter kam in ein Frauenlager und Matthews Tante Lenina sowie seine damals knapp dreijährige Mutter Ljudmila ins Kinderheim. Der Zweite Weltkrieg trennte die Schwestern, nur durch Zufall, oder Vorsehung, wie Lenina glaubte, fanden sie sich wieder.
Nach dem Krieg schottete sich Russland weiter gegen den kapitalistischen Westen ab. Nur wenigen Ausländern war die Einreise erlaubt. Matthews Vater Mervyn wollte seine russophile Neigung ausleben und nutzte in den späten 50er Jahren jede Möglichkeit, um nach Moskau zu kommen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der englischen Botschaft erreichte er sein Ziel und wurde später sogar Student an der Moskauer Universität. Der russische Geheimdienst hatte die westlichen Ausländer zu jeder Zeit im Blick und versuchte auch Mervyn mehrfach für den KGB anzuwerben. Freundschaften zwischen Ausländern und Russen waren ungern gesehen, eigentlich verboten. Mervyn wird Ljudmila vorgestellt und eine tragische Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf. Denn den Frust über den unerschütterlichen Patriotismus des jungen englischen Wissenschaftlers lässt der KGB schließlich an dessen privatem Glück aus. Der angemeldete Hochzeitstermin wird von oben zurückgezogen, Mervyn muss unverzüglich das Land verlassen und landet unabänderlich auf der schwarzen Liste des KGB.
„Ein tief berührendes und mitreißendes Stück Zeitgeschichte“ – so lautet eine der abgedruckten Pressestimmen im Buch. Und der Begriff Zeitgeschichte trifft es ziemlich genau. Drei Generationen erlebt der Leser, er taucht ein in eine fremde Welt, in ein riesiges Land und in die furchtbare grausame Historie einer Weltmacht. Matthews Buch einen Roman zu nennen, fällt mir hingegen schwer. Es ist zum einen die Erzählung seiner eigenen Familiengeschichte, aber diese ist nicht fiktiv literarisch ausgeschmückt, sondern immer mit einem leicht distanzierten Blick fast sachlich erzählt. Zum anderen ist es eine subjektiv eingefärbte, aber weitestgehend historische Betrachtung und Beschreibung Russlands in all seiner Macht, Härte, Ideologie und seinem Leid im 20. Jahrhundert. Schrecklich und faszinierend zugleich.