Russland erleben

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Owen Matthews Buch Winterkinder ist gleichzeitig Biografie und Zeitgeschichte. Der Versuch des Autors, mehr über seine Vorfahren zu erfahren und es in Buchform festzuhalten. 

In den 30er Jahren beginnt diese Familienbiografie bei den Großeltern. Der Großvater wird als angeblicher Verräter zum Tode verurteilt und später hingerichtet. Seine Frau und Mutter zweiter Töchter wird bald darauf ebenfalls verhaftet und zu Straflager verurteilt. Ihre beiden Töchter (12 und 3 Jahre alt) werden von der Verhaftung weg in ein Heim für jugendliche Straftäter verbracht, da auch die Kinder als kriminell gelten, wenn deren Eltern inhaftiert sind. Es dauert lange Jahre, bis die Familie wieder zusammen findet und noch länger, bis sie überhaupt erfährt, dass der Vater hingerichtet wurde. 

Alleine dieser erste Teil der Biografie ist ausgesprochen spannend und auch mitreißend. Obwohl der Autor nicht zu rührseligem Schreibstil neigt und recht distanziert schildert, kann das Gelesene einen nicht unberührt lassen. Es ist kaum vorstellbar, was diese Kinder und überhaupt die Menschen zu jener Zeit durchleben mussten.

Matthews bringt es fertig, ein Buch entstehen zu lassen, welches auf phantastische Weise eine Art lebendigen Stammbaum entstehen lässt. Dabei kommen regelmäßig Zeitsprünge, die mir jedoch an keiner Stelle Probleme bereitet haben, sondern sogar die Geschichte auf ganz eigene Art auflockerten. Die o. g. Verhaftung nimmt er zum Anlass, in der Zeit zurück zu wandern, als sein Großvater aufwuchs, wie er von zu Hause weg und in die Stadt zog, wie er seine spätere Frau kennenlernte und was sich bis zu jenem schicksalhaften Tag in seinem Berufsleben ergab. Auch die Großmutter wird erhellt - ihre Jugend und ihre Reise mit ihrer kleineren Schwester weg von zu Hause. Wie sie sie an einem Bahnsteig sterbend zurück ließ, weil sie selbst als halbes Kind mit der Situation überfordert war. 

Es folgen Kapitel über die dem Krieg folgende Zeit und der durchaus längste Teil des Buches, die gemeinsame Geschichte seiner Eltern - das Kennenlernen und vor allem der Jahre dauernde Kampf gegen die Betonköpfe des Kalten Krieges. Letztlich wurde dieser Kampf gewonnen, aber erst zu einem Zeitpunkt, wo er fast schon als verloren empfunden wurde. Sehr berührend und auch sehr persönlich empfand ich die Textstellen aus den Hunderten Briefen, die die Eltern sich während dieses Kampfes geschrieben haben - Er in England, Sie in Russland. Sie schrieben sich fast täglich und das über 5 Jahre. Diese Briefe enthalten so viel Intensität. Wie viel Verzweiflung und doch Hoffnung, Schmerzen, Kummer und vor allem Liebe in diese Briefe geflossen ist. Alles, was sie nicht ausleben konnten, musste in diese Briefe fließen, um den Traum aufrecht zu erhalten, dass alles gut werden wird und man einfach eine kleine, glückliche Familie gründen kann. Dabei trotzdem fernab jeglicher Schmalzliteratur, vor allem, weil es tatsächlich real war und keine erfundene Herzschmerz-Story.

Die einzelnen Kapitel sind größtenteils den jeweiligen Personen gewidmet. Hierbei wird naturgemäß nicht nur der russische Teil der Familie beleuchtet, sondern auch der englische Part von Seiten seines Vaters. Immer wieder ganze Abschnitte über seine eigenen Erfahrungen, vor allem in Russland. Was ihm an gewissen Schauplätzen durch den Kopf ging, wie er sich seine Eltern an diesem oder jenem Platz vorstellt, wie er selbst manche russischen Eigenarten erfahren hat, wie sich in vieler Hinsicht doch einiges beträchtlich geändert hat seit den Tagen des Sowjetischen Kommunismus. 

Diese Sprünge geben dem Buch eine eigenwillige Lebendigkeit. Es hat mich ausgesprochen gefesselt, was bei einer Biografie etwas heißen soll. Ich war erst sehr unsicher, ob dieses Buch überhaupt etwas für mich ist (Biografie ist nicht gerade mein Steckenpferd) und wurde aufs Angenehmste überrascht! An jeder Stelle des Buches kann man die unergründliche Liebe des Autors zu Russland spüren. Und auch die seinen Eltern gegenüber. Er hat sich lange Jahre mit seinen Ahnen beschäftigt und dadurch m. E. vieles besser verstehen gelernt - vor allem seinen Vater.

Ich hätte sehr gerne noch mehr über seine eigene Kindheit erfahren, die m. M. nach etwas zu kurz geraten ist. Sehr bewegend hingegen empfand ich seine Schilderungen als Kriegsreporter. Überhaupt ist in diesem Buch sehr viel Zeitgeschichte eingefangen. Gerade die russische Geschichte ist in Deutschland vielen fremd. Nach der Lektüre ist man ein gutes Stück aufgeklärter und man kann vielleicht auch in bisschen der russischen Luft atmen.

Fazit: Ein ganz wundervolles, bewegendes Buch von dem ich hoffe, dass es viele Anhänger findet. Es wird sicher lange in mir nachhallen und ich bin dankbar, dass ich es lesen durfte!